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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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wie er die abenteuerlichen Kneipereien des jungen Mannes
zu nennen pflegte. Das kam selten vor; legte sich doch der
"gute Junge" fast regelmäßig um 9 Uhr schlafen, um des
Morgens rechtzeitig munter zu sein. Als der Großvater
eines Vormittags seinem Sohne berichtete, daß Franz einige
Mal nach Mitternacht nach Hause gekommen sei, lachte Jo¬
hannes Timpe ihm laut ins Gesicht. Sein Sohn, der um
9 Uhr bereits nach seiner Stube hinaufgegangen war, sollte
am frühen Morgen nach Hause gekommen sein? Er fand
das äußerst schnurrig und sprach von "wunderlichen Träumen"
und "Gespenstersehen trotz der Blindheit." Der Greis aber hatte
sich nicht getäuscht. Eines Abends vernahm er, wie sein Enkel
kurz vor zehn Uhr leise die Thür verschloß und die Treppe hin¬
unterschlich. An den geschlossenen Fensterläden vorüber konnte
Franz unbemerkt die Straße erreichen. Das wiederholte sich
mehrmals in der Woche. Er täuschte und belog eine Eltern
zu gleicher Zeit.

Der Alte war starr bei dieser Entdeckung, behielt sie
zuerst für sich, nahm aber seinen Enkel bei Gelegenheit in's
Gebet, um ihn zu beschämen, Timpe junior leugnete; und
als er inne ward, daß das nichts helfe, wurde er von einem
unbezwingbaren Haß gegen den Alten erfaßt -- einem Haß,
der eigentlich nur das helle Aufflackern einer von seiner Kind¬
heit an in ihm schlummernden Abneigung gegen den Gro߬
vater war.

Ulrich Gottfried Timpe aber mußte nach seiner Mittheilung
erleben, daß Johannes zuerst ein sehr ernstes, überraschtes
Gesicht zeigte, dann zu lachen anfing und sagte: "Ein toller
Junge! Der hat richtigen Mutterwitz. Ich weiß Vater, daß
Du Dich nicht gut mit ihm stehst; überlaß' mir nur die Ge¬

wie er die abenteuerlichen Kneipereien des jungen Mannes
zu nennen pflegte. Das kam ſelten vor; legte ſich doch der
„gute Junge“ faſt regelmäßig um 9 Uhr ſchlafen, um des
Morgens rechtzeitig munter zu ſein. Als der Großvater
eines Vormittags ſeinem Sohne berichtete, daß Franz einige
Mal nach Mitternacht nach Hauſe gekommen ſei, lachte Jo¬
hannes Timpe ihm laut ins Geſicht. Sein Sohn, der um
9 Uhr bereits nach ſeiner Stube hinaufgegangen war, ſollte
am frühen Morgen nach Hauſe gekommen ſein? Er fand
das äußerſt ſchnurrig und ſprach von „wunderlichen Träumen“
und „Geſpenſterſehen trotz der Blindheit.“ Der Greis aber hatte
ſich nicht getäuſcht. Eines Abends vernahm er, wie ſein Enkel
kurz vor zehn Uhr leiſe die Thür verſchloß und die Treppe hin¬
unterſchlich. An den geſchloſſenen Fenſterläden vorüber konnte
Franz unbemerkt die Straße erreichen. Das wiederholte ſich
mehrmals in der Woche. Er täuſchte und belog eine Eltern
zu gleicher Zeit.

Der Alte war ſtarr bei dieſer Entdeckung, behielt ſie
zuerſt für ſich, nahm aber ſeinen Enkel bei Gelegenheit in's
Gebet, um ihn zu beſchämen, Timpe junior leugnete; und
als er inne ward, daß das nichts helfe, wurde er von einem
unbezwingbaren Haß gegen den Alten erfaßt — einem Haß,
der eigentlich nur das helle Aufflackern einer von ſeiner Kind¬
heit an in ihm ſchlummernden Abneigung gegen den Gro߬
vater war.

Ulrich Gottfried Timpe aber mußte nach ſeiner Mittheilung
erleben, daß Johannes zuerſt ein ſehr ernſtes, überraſchtes
Geſicht zeigte, dann zu lachen anfing und ſagte: „Ein toller
Junge! Der hat richtigen Mutterwitz. Ich weiß Vater, daß
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[18/0030] wie er die abenteuerlichen Kneipereien des jungen Mannes zu nennen pflegte. Das kam ſelten vor; legte ſich doch der „gute Junge“ faſt regelmäßig um 9 Uhr ſchlafen, um des Morgens rechtzeitig munter zu ſein. Als der Großvater eines Vormittags ſeinem Sohne berichtete, daß Franz einige Mal nach Mitternacht nach Hauſe gekommen ſei, lachte Jo¬ hannes Timpe ihm laut ins Geſicht. Sein Sohn, der um 9 Uhr bereits nach ſeiner Stube hinaufgegangen war, ſollte am frühen Morgen nach Hauſe gekommen ſein? Er fand das äußerſt ſchnurrig und ſprach von „wunderlichen Träumen“ und „Geſpenſterſehen trotz der Blindheit.“ Der Greis aber hatte ſich nicht getäuſcht. Eines Abends vernahm er, wie ſein Enkel kurz vor zehn Uhr leiſe die Thür verſchloß und die Treppe hin¬ unterſchlich. An den geſchloſſenen Fenſterläden vorüber konnte Franz unbemerkt die Straße erreichen. Das wiederholte ſich mehrmals in der Woche. Er täuſchte und belog eine Eltern zu gleicher Zeit. Der Alte war ſtarr bei dieſer Entdeckung, behielt ſie zuerſt für ſich, nahm aber ſeinen Enkel bei Gelegenheit in's Gebet, um ihn zu beſchämen, Timpe junior leugnete; und als er inne ward, daß das nichts helfe, wurde er von einem unbezwingbaren Haß gegen den Alten erfaßt — einem Haß, der eigentlich nur das helle Aufflackern einer von ſeiner Kind¬ heit an in ihm ſchlummernden Abneigung gegen den Gro߬ vater war. Ulrich Gottfried Timpe aber mußte nach ſeiner Mittheilung erleben, daß Johannes zuerſt ein ſehr ernſtes, überraſchtes Geſicht zeigte, dann zu lachen anfing und ſagte: „Ein toller Junge! Der hat richtigen Mutterwitz. Ich weiß Vater, daß Du Dich nicht gut mit ihm ſtehſt; überlaß' mir nur die Ge¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/30>, abgerufen am 26.04.2024.