Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

gefunden und sprach nun nur noch von den goldenen Tagen
des Handwerks.

Eines Abends suchte Timpe Jamrath wieder auf. Der
Stammtisch war bereits besetzt und die Wogen der Debatte
gingen hoch. Das Gespräch drehte sich um die Stadtbahn,
deren Bau vom Staate wieder aufgenommen worden war.
Seit Wochen behandelte man Abend für Abend dieses
Thema. Einige Hausbesitzer, welche die Runde zierten,
waren besonders dabei interessirt, vor Allem der lange
Brümmer, dessen windschiefes Haus direkt von der
Linie berührt wurde, und der seit dem Tage, an dem
er das erfahren hatte, so gesprächig geworden war, daß der
Schornsteinfegermeister aller Welt erzählte, die Schweigsamkeit
des Rentiers wäre bis dato nur Verstellung gewesen. Kam
die Rede auf die Stadtbahn, so hüpfte er förmlich auf seinem
Stuhl, und war, wenn er das Lokal betrat, noch Niemand
von den bekannten Gästen anwesend, und selbst Vater Jam¬
rath für ihn unsichtbar, so unterhielt er sich mit dem Kellner
über das neueste Wunder Berlins und suchte diesem sehr ein¬
dringlich zu beweisen, was für einen Vortheil der Staat
durch den Ankauf seines Grundstücks haben würde. Fritz, der
nie trauriger aussah, als wenn er ein freundliches Gesicht
machen wollte, sagte zu Allem "Ja" und bekam seit dieser
Zeit ein ganzes Nickelstück als Trinkgeld.

Seit Monaten waren bereits die Strecken, welche die
Schienen zu nehmen hatten, öffentlich ausgelegt gewesen, und
das Verwaltungsgericht zu Potsdam als oberste Entscheidungs¬
behörde in dieser Angelegenheit, hatte seine liebe Noth, um
allen einlaufenden Protesten gerecht zu werden. Hinterhäuser
mußten heruntergerissen, Vorderhäuser durchschnitten, ganze

gefunden und ſprach nun nur noch von den goldenen Tagen
des Handwerks.

Eines Abends ſuchte Timpe Jamrath wieder auf. Der
Stammtiſch war bereits beſetzt und die Wogen der Debatte
gingen hoch. Das Geſpräch drehte ſich um die Stadtbahn,
deren Bau vom Staate wieder aufgenommen worden war.
Seit Wochen behandelte man Abend für Abend dieſes
Thema. Einige Hausbeſitzer, welche die Runde zierten,
waren beſonders dabei intereſſirt, vor Allem der lange
Brümmer, deſſen windſchiefes Haus direkt von der
Linie berührt wurde, und der ſeit dem Tage, an dem
er das erfahren hatte, ſo geſprächig geworden war, daß der
Schornſteinfegermeiſter aller Welt erzählte, die Schweigſamkeit
des Rentiers wäre bis dato nur Verſtellung geweſen. Kam
die Rede auf die Stadtbahn, ſo hüpfte er förmlich auf ſeinem
Stuhl, und war, wenn er das Lokal betrat, noch Niemand
von den bekannten Gäſten anweſend, und ſelbſt Vater Jam¬
rath für ihn unſichtbar, ſo unterhielt er ſich mit dem Kellner
über das neueſte Wunder Berlins und ſuchte dieſem ſehr ein¬
dringlich zu beweiſen, was für einen Vortheil der Staat
durch den Ankauf ſeines Grundſtücks haben würde. Fritz, der
nie trauriger ausſah, als wenn er ein freundliches Geſicht
machen wollte, ſagte zu Allem „Ja“ und bekam ſeit dieſer
Zeit ein ganzes Nickelſtück als Trinkgeld.

Seit Monaten waren bereits die Strecken, welche die
Schienen zu nehmen hatten, öffentlich ausgelegt geweſen, und
das Verwaltungsgericht zu Potsdam als oberſte Entſcheidungs¬
behörde in dieſer Angelegenheit, hatte ſeine liebe Noth, um
allen einlaufenden Proteſten gerecht zu werden. Hinterhäuſer
mußten heruntergeriſſen, Vorderhäuſer durchſchnitten, ganze

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0174" n="162"/>
gefunden und &#x017F;prach nun nur noch von den goldenen Tagen<lb/>
des Handwerks.</p><lb/>
        <p>Eines Abends &#x017F;uchte Timpe Jamrath wieder auf. Der<lb/>
Stammti&#x017F;ch war bereits be&#x017F;etzt und die Wogen der Debatte<lb/>
gingen hoch. Das Ge&#x017F;präch drehte &#x017F;ich um die Stadtbahn,<lb/>
deren Bau vom Staate wieder aufgenommen worden war.<lb/>
Seit Wochen behandelte man Abend für Abend die&#x017F;es<lb/>
Thema. Einige Hausbe&#x017F;itzer, welche die Runde zierten,<lb/>
waren be&#x017F;onders dabei intere&#x017F;&#x017F;irt, vor Allem der lange<lb/>
Brümmer, de&#x017F;&#x017F;en wind&#x017F;chiefes Haus direkt von der<lb/>
Linie berührt wurde, und der &#x017F;eit dem Tage, an dem<lb/>
er das erfahren hatte, &#x017F;o ge&#x017F;prächig geworden war, daß der<lb/>
Schorn&#x017F;teinfegermei&#x017F;ter aller Welt erzählte, die Schweig&#x017F;amkeit<lb/>
des Rentiers wäre bis dato nur Ver&#x017F;tellung gewe&#x017F;en. Kam<lb/>
die Rede auf die Stadtbahn, &#x017F;o hüpfte er förmlich auf &#x017F;einem<lb/>
Stuhl, und war, wenn er das Lokal betrat, noch Niemand<lb/>
von den bekannten Gä&#x017F;ten anwe&#x017F;end, und &#x017F;elb&#x017F;t Vater Jam¬<lb/>
rath für ihn un&#x017F;ichtbar, &#x017F;o unterhielt er &#x017F;ich mit dem Kellner<lb/>
über das neue&#x017F;te Wunder Berlins und &#x017F;uchte die&#x017F;em &#x017F;ehr ein¬<lb/>
dringlich zu bewei&#x017F;en, was für einen Vortheil der Staat<lb/>
durch den Ankauf &#x017F;eines Grund&#x017F;tücks haben würde. Fritz, der<lb/>
nie trauriger aus&#x017F;ah, als wenn er ein freundliches Ge&#x017F;icht<lb/>
machen wollte, &#x017F;agte zu Allem &#x201E;Ja&#x201C; und bekam &#x017F;eit die&#x017F;er<lb/>
Zeit ein ganzes Nickel&#x017F;tück als Trinkgeld.</p><lb/>
        <p>Seit Monaten waren bereits die Strecken, welche die<lb/>
Schienen zu nehmen hatten, öffentlich ausgelegt gewe&#x017F;en, und<lb/>
das Verwaltungsgericht zu Potsdam als ober&#x017F;te Ent&#x017F;cheidungs¬<lb/>
behörde in die&#x017F;er Angelegenheit, hatte &#x017F;eine liebe Noth, um<lb/>
allen einlaufenden Prote&#x017F;ten gerecht zu werden. Hinterhäu&#x017F;er<lb/>
mußten heruntergeri&#x017F;&#x017F;en, Vorderhäu&#x017F;er durch&#x017F;chnitten, ganze<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0174] gefunden und ſprach nun nur noch von den goldenen Tagen des Handwerks. Eines Abends ſuchte Timpe Jamrath wieder auf. Der Stammtiſch war bereits beſetzt und die Wogen der Debatte gingen hoch. Das Geſpräch drehte ſich um die Stadtbahn, deren Bau vom Staate wieder aufgenommen worden war. Seit Wochen behandelte man Abend für Abend dieſes Thema. Einige Hausbeſitzer, welche die Runde zierten, waren beſonders dabei intereſſirt, vor Allem der lange Brümmer, deſſen windſchiefes Haus direkt von der Linie berührt wurde, und der ſeit dem Tage, an dem er das erfahren hatte, ſo geſprächig geworden war, daß der Schornſteinfegermeiſter aller Welt erzählte, die Schweigſamkeit des Rentiers wäre bis dato nur Verſtellung geweſen. Kam die Rede auf die Stadtbahn, ſo hüpfte er förmlich auf ſeinem Stuhl, und war, wenn er das Lokal betrat, noch Niemand von den bekannten Gäſten anweſend, und ſelbſt Vater Jam¬ rath für ihn unſichtbar, ſo unterhielt er ſich mit dem Kellner über das neueſte Wunder Berlins und ſuchte dieſem ſehr ein¬ dringlich zu beweiſen, was für einen Vortheil der Staat durch den Ankauf ſeines Grundſtücks haben würde. Fritz, der nie trauriger ausſah, als wenn er ein freundliches Geſicht machen wollte, ſagte zu Allem „Ja“ und bekam ſeit dieſer Zeit ein ganzes Nickelſtück als Trinkgeld. Seit Monaten waren bereits die Strecken, welche die Schienen zu nehmen hatten, öffentlich ausgelegt geweſen, und das Verwaltungsgericht zu Potsdam als oberſte Entſcheidungs¬ behörde in dieſer Angelegenheit, hatte ſeine liebe Noth, um allen einlaufenden Proteſten gerecht zu werden. Hinterhäuſer mußten heruntergeriſſen, Vorderhäuſer durchſchnitten, ganze

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/174
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/174>, abgerufen am 03.05.2024.