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Kraus, Otto: Der Professorenroman. In: Zeitfragen des christlichen Volkslebens/ Band IX. Heft 4 (1884).

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entfernte den Zipfel des Mantels, welcher sein Haupt bedeckt
hatte, von dem Antlitz, richtete sich langsam auf und sagte, ohne
seine liegende Stellung aufzugeben, mit äußerst wohllautender
Stimme ganz schlicht und gelassen: "Du bist es, Xanthe?" Ja,
schlicht und gelassen, matt und langweilig reiht sich Frage an
Frage bis zu der letzten: "O Xanthe, liebe, einzige Xanthe,
willst du mich oder unseren Vetter Leonax zum Gatten?" Die
Antwort mitzutheilen ist überflüssig. Zur Einleitung hatte ja die
Schöne dreimal gehustet -- um einen Laut zu vernehmen! --
Wir hatten früher immer geglaubt, Ebers male die Geschlechts-
liebe in der alten Welt grundsätzlich mit matten, gedämpften,
gebrochenen Farben, die Bekanntschaft mit der "Bürgermeisterin"
ergibt aber, daß er diese Art Malerei für allein zulässig erachtet.
Die Frau Bürgermeisterin ist die junge Gattin des Bürgermeisters
Peter van der Werff, des tapferen Vertheidigers von Leyden. Der
Bürgermeister lebt in zweiter Ehe, könnte der Vater seiner zweiten
Frau sein und kommt vor dem Drange der Amtsgeschäfte und
hohen Politik nicht zu gemüthlicher Kundgabe seines ehelichen
Glücks. Bei der erstmaligen Wiederkehr des Hochzeitstags drückt
er seiner Frau nur "einen langen (!) Kuß auf die Stirne".
Der gute Mann will seiner Frau alle trüben Sorgen, mit welchen
er an die Zukunft seiner Vaterstadt denkt, verständiger Weise
nach Möglichkeit ersparen, das nimmt die Gattin aber sehr übel,
sie schmollt, weint thöricht genug, sie stehe dem Manne bei Er-
füllung seiner Berufspflichten im Wege u. s. w. Als der Bürger-
meister von einer gefahrdrohenden Reise glücklich zurückkehrt,
drückt er "die Lippen auf ihre Augen und ihr duftendes Haar",
sie hatte die Hände fest um seinen Hals geschlungen. An dem
Tage, da sie den Mann ihrer ersten Liebe, den unvermählt ge-
bliebenen Thüringer Georg von Dornburg wiedergesehen
und sich darüber in der rechtzeitigen Heimkehr nach ihrer Woh-
nung versäumt hat, "führt sie zum erstenmale seit ihrer Ver-
mählung die Hand ihres Mannes an die Lippen", worauf der
Bürgermeister ihr mit gewohnter Formalität und vornehmer
Kühle die Stirne küßte. Der Versuchung, in die Liebe zu dem
Junker zurückzufallen, widersteht die tüchtige Frau, und als es

entfernte den Zipfel des Mantels, welcher ſein Haupt bedeckt
hatte, von dem Antlitz, richtete ſich langſam auf und ſagte, ohne
ſeine liegende Stellung aufzugeben, mit äußerſt wohllautender
Stimme ganz ſchlicht und gelaſſen: „Du biſt es, Xanthe?‟ Ja,
ſchlicht und gelaſſen, matt und langweilig reiht ſich Frage an
Frage bis zu der letzten: „O Xanthe, liebe, einzige Xanthe,
willſt du mich oder unſeren Vetter Leonax zum Gatten?‟ Die
Antwort mitzutheilen iſt überflüſſig. Zur Einleitung hatte ja die
Schöne dreimal gehuſtet — um einen Laut zu vernehmen! —
Wir hatten früher immer geglaubt, Ebers male die Geſchlechts-
liebe in der alten Welt grundſätzlich mit matten, gedämpften,
gebrochenen Farben, die Bekanntſchaft mit der „Bürgermeiſterin‟
ergibt aber, daß er dieſe Art Malerei für allein zuläſſig erachtet.
Die Frau Bürgermeiſterin iſt die junge Gattin des Bürgermeiſters
Peter van der Werff, des tapferen Vertheidigers von Leyden. Der
Bürgermeiſter lebt in zweiter Ehe, könnte der Vater ſeiner zweiten
Frau ſein und kommt vor dem Drange der Amtsgeſchäfte und
hohen Politik nicht zu gemüthlicher Kundgabe ſeines ehelichen
Glücks. Bei der erſtmaligen Wiederkehr des Hochzeitstags drückt
er ſeiner Frau nur „einen langen (!) Kuß auf die Stirne‟.
Der gute Mann will ſeiner Frau alle trüben Sorgen, mit welchen
er an die Zukunft ſeiner Vaterſtadt denkt, verſtändiger Weiſe
nach Möglichkeit erſparen, das nimmt die Gattin aber ſehr übel,
ſie ſchmollt, weint thöricht genug, ſie ſtehe dem Manne bei Er-
füllung ſeiner Berufspflichten im Wege u. ſ. w. Als der Bürger-
meiſter von einer gefahrdrohenden Reiſe glücklich zurückkehrt,
drückt er „die Lippen auf ihre Augen und ihr duftendes Haar‟,
ſie hatte die Hände feſt um ſeinen Hals geſchlungen. An dem
Tage, da ſie den Mann ihrer erſten Liebe, den unvermählt ge-
bliebenen Thüringer Georg von Dornburg wiedergeſehen
und ſich darüber in der rechtzeitigen Heimkehr nach ihrer Woh-
nung verſäumt hat, „führt ſie zum erſtenmale ſeit ihrer Ver-
mählung die Hand ihres Mannes an die Lippen‟, worauf der
Bürgermeiſter ihr mit gewohnter Formalität und vornehmer
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[36 228/0036] entfernte den Zipfel des Mantels, welcher ſein Haupt bedeckt hatte, von dem Antlitz, richtete ſich langſam auf und ſagte, ohne ſeine liegende Stellung aufzugeben, mit äußerſt wohllautender Stimme ganz ſchlicht und gelaſſen: „Du biſt es, Xanthe?‟ Ja, ſchlicht und gelaſſen, matt und langweilig reiht ſich Frage an Frage bis zu der letzten: „O Xanthe, liebe, einzige Xanthe, willſt du mich oder unſeren Vetter Leonax zum Gatten?‟ Die Antwort mitzutheilen iſt überflüſſig. Zur Einleitung hatte ja die Schöne dreimal gehuſtet — um einen Laut zu vernehmen! — Wir hatten früher immer geglaubt, Ebers male die Geſchlechts- liebe in der alten Welt grundſätzlich mit matten, gedämpften, gebrochenen Farben, die Bekanntſchaft mit der „Bürgermeiſterin‟ ergibt aber, daß er dieſe Art Malerei für allein zuläſſig erachtet. Die Frau Bürgermeiſterin iſt die junge Gattin des Bürgermeiſters Peter van der Werff, des tapferen Vertheidigers von Leyden. Der Bürgermeiſter lebt in zweiter Ehe, könnte der Vater ſeiner zweiten Frau ſein und kommt vor dem Drange der Amtsgeſchäfte und hohen Politik nicht zu gemüthlicher Kundgabe ſeines ehelichen Glücks. Bei der erſtmaligen Wiederkehr des Hochzeitstags drückt er ſeiner Frau nur „einen langen (!) Kuß auf die Stirne‟. Der gute Mann will ſeiner Frau alle trüben Sorgen, mit welchen er an die Zukunft ſeiner Vaterſtadt denkt, verſtändiger Weiſe nach Möglichkeit erſparen, das nimmt die Gattin aber ſehr übel, ſie ſchmollt, weint thöricht genug, ſie ſtehe dem Manne bei Er- füllung ſeiner Berufspflichten im Wege u. ſ. w. Als der Bürger- meiſter von einer gefahrdrohenden Reiſe glücklich zurückkehrt, drückt er „die Lippen auf ihre Augen und ihr duftendes Haar‟, ſie hatte die Hände feſt um ſeinen Hals geſchlungen. An dem Tage, da ſie den Mann ihrer erſten Liebe, den unvermählt ge- bliebenen Thüringer Georg von Dornburg wiedergeſehen und ſich darüber in der rechtzeitigen Heimkehr nach ihrer Woh- nung verſäumt hat, „führt ſie zum erſtenmale ſeit ihrer Ver- mählung die Hand ihres Mannes an die Lippen‟, worauf der Bürgermeiſter ihr mit gewohnter Formalität und vornehmer Kühle die Stirne küßte. Der Verſuchung, in die Liebe zu dem Junker zurückzufallen, widerſteht die tüchtige Frau, und als es

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Zitationshilfe: Kraus, Otto: Der Professorenroman. In: Zeitfragen des christlichen Volkslebens/ Band IX. Heft 4 (1884), S. 36 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraus_professorenroman_1884/36>, abgerufen am 23.11.2024.