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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804.

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Sie kamen. Man schrieb mir, der Zeitpunkt sey gün-
stig, ich sollte mich augenblicklich einfinden. Jch reisete in
Frauenzimmerkleidung ab, und war bereits bis Auxerre
gekommen, als ich vernahm, daß meine Parthey zu lan-
ge gezögert, und daß der 18. Fruktidor alle meine Hoff-
nungen vernichtet habe. Schon gewöhnt an die Tücke
des Schicksals, blieb ich gelassen; veränderte sogleich mei-
ne Reiseroute, und kam in kleinen Tagreisen in das De-
partement von Calvados, von da ich in einem Fischer-
boote nach Jersey zu entkommen hoffte. Jch schiffte mich
auch wirklich ein, aber englische Kreuzer jagten mich zu-
rück auf den Strand. Hier wurde ich als verdächtig ar-
retirt, und nach Cherbourg gebracht. Jch entwischte,
fiel unter Räuber, kam fast nackend nach Paris, wurde
von einigen alten treuen Dienern meines Vaters kärglich
unterstützt; wollte, ihren Rath befolgend, nach Deutsch-
land flüchten, wurde unterwegs bey Chalons abermals
angehalten, ausgeliefert, verurtheilt -- der Leser weis
das Uebrige.

Man muß gestehen, daß es fast unbegreiflich ist,
wie ein ungehobelter Schneiderssohn aus St. Lo ein so
künstlich zusammengesetztes Mährchen erfinden konnte.
Das ist es auch, was noch jetzt seine Anhänger einwen-
den. Die Erzählung, sagen sie, trägt das Gepräge der
Wahrheit; und hat man den Dauphin nicht ganz aus
der Welt geschafft, so wird er über lang oder kurz wieder
erscheinen, die goldenen Zeiten auf unsere Fluren zurück-
und seine Getreue zu hohen Ehren bringen.

Sie kamen. Man schrieb mir, der Zeitpunkt sey guͤn-
stig, ich sollte mich augenblicklich einfinden. Jch reisete in
Frauenzimmerkleidung ab, und war bereits bis Auxerre
gekommen, als ich vernahm, daß meine Parthey zu lan-
ge gezoͤgert, und daß der 18. Fruktidor alle meine Hoff-
nungen vernichtet habe. Schon gewoͤhnt an die Tuͤcke
des Schicksals, blieb ich gelassen; veraͤnderte sogleich mei-
ne Reiseroute, und kam in kleinen Tagreisen in das De-
partement von Calvados, von da ich in einem Fischer-
boote nach Jersey zu entkommen hoffte. Jch schiffte mich
auch wirklich ein, aber englische Kreuzer jagten mich zu-
ruͤck auf den Strand. Hier wurde ich als verdaͤchtig ar-
retirt, und nach Cherbourg gebracht. Jch entwischte,
fiel unter Raͤuber, kam fast nackend nach Paris, wurde
von einigen alten treuen Dienern meines Vaters kaͤrglich
unterstuͤtzt; wollte, ihren Rath befolgend, nach Deutsch-
land fluͤchten, wurde unterwegs bey Chalons abermals
angehalten, ausgeliefert, verurtheilt — der Leser weis
das Uebrige.

Man muß gestehen, daß es fast unbegreiflich ist,
wie ein ungehobelter Schneiderssohn aus St. Lo ein so
kuͤnstlich zusammengesetztes Maͤhrchen erfinden konnte.
Das ist es auch, was noch jetzt seine Anhaͤnger einwen-
den. Die Erzaͤhlung, sagen sie, traͤgt das Gepraͤge der
Wahrheit; und hat man den Dauphin nicht ganz aus
der Welt geschafft, so wird er uͤber lang oder kurz wieder
erscheinen, die goldenen Zeiten auf unsere Fluren zuruͤck-
und seine Getreue zu hohen Ehren bringen.

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[108/0108] Sie kamen. Man schrieb mir, der Zeitpunkt sey guͤn- stig, ich sollte mich augenblicklich einfinden. Jch reisete in Frauenzimmerkleidung ab, und war bereits bis Auxerre gekommen, als ich vernahm, daß meine Parthey zu lan- ge gezoͤgert, und daß der 18. Fruktidor alle meine Hoff- nungen vernichtet habe. Schon gewoͤhnt an die Tuͤcke des Schicksals, blieb ich gelassen; veraͤnderte sogleich mei- ne Reiseroute, und kam in kleinen Tagreisen in das De- partement von Calvados, von da ich in einem Fischer- boote nach Jersey zu entkommen hoffte. Jch schiffte mich auch wirklich ein, aber englische Kreuzer jagten mich zu- ruͤck auf den Strand. Hier wurde ich als verdaͤchtig ar- retirt, und nach Cherbourg gebracht. Jch entwischte, fiel unter Raͤuber, kam fast nackend nach Paris, wurde von einigen alten treuen Dienern meines Vaters kaͤrglich unterstuͤtzt; wollte, ihren Rath befolgend, nach Deutsch- land fluͤchten, wurde unterwegs bey Chalons abermals angehalten, ausgeliefert, verurtheilt — der Leser weis das Uebrige. Man muß gestehen, daß es fast unbegreiflich ist, wie ein ungehobelter Schneiderssohn aus St. Lo ein so kuͤnstlich zusammengesetztes Maͤhrchen erfinden konnte. Das ist es auch, was noch jetzt seine Anhaͤnger einwen- den. Die Erzaͤhlung, sagen sie, traͤgt das Gepraͤge der Wahrheit; und hat man den Dauphin nicht ganz aus der Welt geschafft, so wird er uͤber lang oder kurz wieder erscheinen, die goldenen Zeiten auf unsere Fluren zuruͤck- und seine Getreue zu hohen Ehren bringen.

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/108>, abgerufen am 23.11.2024.