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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804.

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zu opfern. Man versicherte den Schneider übrigens,
daß er für das Leben seines Sohnes Nichts zu besorgen
habe, und man verschwieg ihm sogar, daß das Kind
durch eine starke Portion Opium in einen tiefen Schlaf
gesenkt werden sollte."

"Jm Tempel war nur dreien Personen das Geheim-
niß vertraut, der Frau des Kerkermeisters, dem oben
erwähnten Wächter, und dem Wäscher des Gefängnisses.
Der Letztere war es, der mich heraustrug, und zu Passy
an die Herren de Frotte, du Chatelier, und den Abbe
Laurent ablieferte. -- Zwei Stunden nach meiner Be-
freiung kam der berühmte Arzt Dessault, dessen Sorg-
falt ich anvertraut war, in den Tempel. Eine zu starke
Dosis Opium hatte das Kind, das in meinem Bette
lag, in einen todtenähnlichen Schlaf versenkt. Dessault
wollte es befühlen, ohne es zu erwecken; als er aber die
Hand auf den Körper desselben legte, spürte er eine
Verschiedenheit mit dem meinigen, der ihm einen Schrey
auspreßte. Sein Erstaunen verwandelte sich in das hef-
tigste Schrecken, als er bei näherer Besichtigung nicht
mehr zweifeln konnte, es sey ganz ein anderes Kind.
Fast eine Stunde lang blieb er im starren Entsetzen. Er
überdachte seine Verantwortlichkeit, die Gefahr, in wel-
cher sein Kopf schwebte, und beschloß endlich sich zu de-
cken, indem er einen geheimen, der Wahrheit gemäßen
Rapport an das Kommitte der öffentlichen Sicherheit
sandte. Hier präsidirte Rovere, der im Geheimniß war,
und seinen erstaunten, wüthenden Kollegen, nachdem
ihre erste Heftigkeit sich gelegt hatte, bewies, daß Schwei-
gen hier das Beste sey, zumal, da das fremde kränkliche
Kind wahrscheinlich sterben werde, und es dann leicht
sey, ganz Europa zu überreden, der wirkliche Dauphin

zu opfern. Man versicherte den Schneider uͤbrigens,
daß er fuͤr das Leben seines Sohnes Nichts zu besorgen
habe, und man verschwieg ihm sogar, daß das Kind
durch eine starke Portion Opium in einen tiefen Schlaf
gesenkt werden sollte.“

„Jm Tempel war nur dreien Personen das Geheim-
niß vertraut, der Frau des Kerkermeisters, dem oben
erwaͤhnten Waͤchter, und dem Waͤscher des Gefaͤngnisses.
Der Letztere war es, der mich heraustrug, und zu Passy
an die Herren de Frotté, du Chatelier, und den Abbé
Laurent ablieferte. — Zwei Stunden nach meiner Be-
freiung kam der beruͤhmte Arzt Dessault, dessen Sorg-
falt ich anvertraut war, in den Tempel. Eine zu starke
Dosis Opium hatte das Kind, das in meinem Bette
lag, in einen todtenaͤhnlichen Schlaf versenkt. Dessault
wollte es befuͤhlen, ohne es zu erwecken; als er aber die
Hand auf den Koͤrper desselben legte, spuͤrte er eine
Verschiedenheit mit dem meinigen, der ihm einen Schrey
auspreßte. Sein Erstaunen verwandelte sich in das hef-
tigste Schrecken, als er bei naͤherer Besichtigung nicht
mehr zweifeln konnte, es sey ganz ein anderes Kind.
Fast eine Stunde lang blieb er im starren Entsetzen. Er
uͤberdachte seine Verantwortlichkeit, die Gefahr, in wel-
cher sein Kopf schwebte, und beschloß endlich sich zu de-
cken, indem er einen geheimen, der Wahrheit gemaͤßen
Rapport an das Kommitté der oͤffentlichen Sicherheit
sandte. Hier praͤsidirte Rovère, der im Geheimniß war,
und seinen erstaunten, wuͤthenden Kollegen, nachdem
ihre erste Heftigkeit sich gelegt hatte, bewies, daß Schwei-
gen hier das Beste sey, zumal, da das fremde kraͤnkliche
Kind wahrscheinlich sterben werde, und es dann leicht
sey, ganz Europa zu uͤberreden, der wirkliche Dauphin

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[102/0103] zu opfern. Man versicherte den Schneider uͤbrigens, daß er fuͤr das Leben seines Sohnes Nichts zu besorgen habe, und man verschwieg ihm sogar, daß das Kind durch eine starke Portion Opium in einen tiefen Schlaf gesenkt werden sollte.“ „Jm Tempel war nur dreien Personen das Geheim- niß vertraut, der Frau des Kerkermeisters, dem oben erwaͤhnten Waͤchter, und dem Waͤscher des Gefaͤngnisses. Der Letztere war es, der mich heraustrug, und zu Passy an die Herren de Frotté, du Chatelier, und den Abbé Laurent ablieferte. — Zwei Stunden nach meiner Be- freiung kam der beruͤhmte Arzt Dessault, dessen Sorg- falt ich anvertraut war, in den Tempel. Eine zu starke Dosis Opium hatte das Kind, das in meinem Bette lag, in einen todtenaͤhnlichen Schlaf versenkt. Dessault wollte es befuͤhlen, ohne es zu erwecken; als er aber die Hand auf den Koͤrper desselben legte, spuͤrte er eine Verschiedenheit mit dem meinigen, der ihm einen Schrey auspreßte. Sein Erstaunen verwandelte sich in das hef- tigste Schrecken, als er bei naͤherer Besichtigung nicht mehr zweifeln konnte, es sey ganz ein anderes Kind. Fast eine Stunde lang blieb er im starren Entsetzen. Er uͤberdachte seine Verantwortlichkeit, die Gefahr, in wel- cher sein Kopf schwebte, und beschloß endlich sich zu de- cken, indem er einen geheimen, der Wahrheit gemaͤßen Rapport an das Kommitté der oͤffentlichen Sicherheit sandte. Hier praͤsidirte Rovère, der im Geheimniß war, und seinen erstaunten, wuͤthenden Kollegen, nachdem ihre erste Heftigkeit sich gelegt hatte, bewies, daß Schwei- gen hier das Beste sey, zumal, da das fremde kraͤnkliche Kind wahrscheinlich sterben werde, und es dann leicht sey, ganz Europa zu uͤberreden, der wirkliche Dauphin

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/103>, abgerufen am 24.11.2024.