der alte ehrwürdige Bischof v. V. stand immer an der Spitze. Ja, dieser letztere beschränkte seinen Eifer nicht auf Geschenke und guten Rath; er wollte auch thätig seyn, und, als er in Erfahrung brachte, daß man seinen illüstern Pupillen von Rheims nach Soissous bringen wol- le, beschloß er, ihn auf der Landstraße den Händen sei- ner Verfolger zu entreißen. Dieses junge Projekt eines alten Kopfes wurde verrathen, man bemächtigte sich des Bischofs, wie auch seiner Papiere, und fand darinn den Beweis, daß er wirklich den Schneiderssohn von Saint Lo die Rolle des Dauphin habe wollen spielen lassen. Er läugnete das auch gar nicht, sondern erklärte geradezu, daß er Hervagault in der That für den Dauphin halte. Das Gouvernement hatte Mitleiden mit dem Greise, und setzte ihn in Freiheit. Auch mit Hervagault würde es milde verfahren haben, wäre er nur irgend zu bessern ge- wesen; doch da er in Soissons sich abermals schnell einen Anhang bildete, so hat man ihn verschwinden lassen.
Um nun aber begreifflich zu finden, wie so viele an- gesehene und kluge Leute sich von diesem rohen Jünglinge konnten täuschen lassen, hätte man ihn selbst müssen er- zählen hören. Mit großer Rührung erinnerte er sich, wie sein Vater Ludwig XVJ. ihm noch im Kerker Unterricht in der Geschichte und Geographie gegeben; mit dem Ton der unbefangenen Wahrheit sprach er von einer Hündinn, die seine Mutter, Maria Antoinette, sehr geliebt und Fi- dele genannt hätte. Die kleinsten Umstände malte er mit kindlicher Lebhaftigkeit, und vergaß auch nicht, daß sein Kerkermeister Simon ihn sogar des Nachts aufgeschreckt
der alte ehrwuͤrdige Bischof v. V. stand immer an der Spitze. Ja, dieser letztere beschraͤnkte seinen Eifer nicht auf Geschenke und guten Rath; er wollte auch thaͤtig seyn, und, als er in Erfahrung brachte, daß man seinen illuͤstern Pupillen von Rheims nach Soissous bringen wol- le, beschloß er, ihn auf der Landstraße den Haͤnden sei- ner Verfolger zu entreißen. Dieses junge Projekt eines alten Kopfes wurde verrathen, man bemaͤchtigte sich des Bischofs, wie auch seiner Papiere, und fand darinn den Beweis, daß er wirklich den Schneiderssohn von Saint Lo die Rolle des Dauphin habe wollen spielen lassen. Er laͤugnete das auch gar nicht, sondern erklaͤrte geradezu, daß er Hervagault in der That fuͤr den Dauphin halte. Das Gouvernement hatte Mitleiden mit dem Greise, und setzte ihn in Freiheit. Auch mit Hervagault wuͤrde es milde verfahren haben, waͤre er nur irgend zu bessern ge- wesen; doch da er in Soissons sich abermals schnell einen Anhang bildete, so hat man ihn verschwinden lassen.
Um nun aber begreifflich zu finden, wie so viele an- gesehene und kluge Leute sich von diesem rohen Juͤnglinge konnten taͤuschen lassen, haͤtte man ihn selbst muͤssen er- zaͤhlen hoͤren. Mit großer Ruͤhrung erinnerte er sich, wie sein Vater Ludwig XVJ. ihm noch im Kerker Unterricht in der Geschichte und Geographie gegeben; mit dem Ton der unbefangenen Wahrheit sprach er von einer Huͤndinn, die seine Mutter, Maria Antoinette, sehr geliebt und Fi- dele genannt haͤtte. Die kleinsten Umstaͤnde malte er mit kindlicher Lebhaftigkeit, und vergaß auch nicht, daß sein Kerkermeister Simon ihn sogar des Nachts aufgeschreckt
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der alte ehrwuͤrdige Bischof v. V. stand immer an der
Spitze. Ja, dieser letztere beschraͤnkte seinen Eifer nicht
auf Geschenke und guten Rath; er wollte auch thaͤtig
seyn, und, als er in Erfahrung brachte, daß man seinen
illuͤstern Pupillen von Rheims nach Soissous bringen wol-
le, beschloß er, ihn auf der Landstraße den Haͤnden sei-
ner Verfolger zu entreißen. Dieses junge Projekt eines
alten Kopfes wurde verrathen, man bemaͤchtigte sich des
Bischofs, wie auch seiner Papiere, und fand darinn den
Beweis, daß er wirklich den Schneiderssohn von Saint
Lo die Rolle des Dauphin habe wollen spielen lassen.
Er laͤugnete das auch gar nicht, sondern erklaͤrte geradezu,
daß er Hervagault in der That fuͤr den Dauphin halte.
Das Gouvernement hatte Mitleiden mit dem Greise, und
setzte ihn in Freiheit. Auch mit Hervagault wuͤrde es
milde verfahren haben, waͤre er nur irgend zu bessern ge-
wesen; doch da er in Soissons sich abermals schnell einen
Anhang bildete, so hat man ihn verschwinden
lassen.
Um nun aber begreifflich zu finden, wie so viele an-
gesehene und kluge Leute sich von diesem rohen Juͤnglinge
konnten taͤuschen lassen, haͤtte man ihn selbst muͤssen er-
zaͤhlen hoͤren. Mit großer Ruͤhrung erinnerte er sich, wie
sein Vater Ludwig XVJ. ihm noch im Kerker Unterricht
in der Geschichte und Geographie gegeben; mit dem Ton
der unbefangenen Wahrheit sprach er von einer Huͤndinn,
die seine Mutter, Maria Antoinette, sehr geliebt und Fi-
dele genannt haͤtte. Die kleinsten Umstaͤnde malte er mit
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/100>, abgerufen am 08.07.2024.
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