bedenklich hinzu, aber heute ist gerade ein Tag, an dem sich alles vortrefflich präsentiren wird. Jch gesteh' Jhnen, liebe Freundin, der Kahlkopf sprach neulich so gut und unbefangen daß ich mich verleiten ließ, vor seinen Tu- bus zu treten. Da zog er unvermerkt an einem Zwirns- faden, und siehe, zwischen meinem Auge und dem gewöhn- lichen Fensterglase hüpfte ein Centaur vorbei, den er aus irgend einem Nürnberger Bilderbogen ausgeschnitten hatte. Schnell zog ich den Kopf beschämt zurück und schlich fort, um einem Andern Platz zu machen. -- Aber warum sollt' ich mich schämen? dacht' ich auf dem Heimwege: geschieht es doch in meinem lieben Vaterlande täglich, daß die gro- ßen Dichter und Philosophen uns ihre Tubus mit mäch- tigem Geschrei vor die Augen halten, indem sie uns, Gott weiß, welche Wunderdinge versprechen. Wir sind guther- zig, wir sehen hinein, und was erblicken wir? -- Jrgend ein kleines Nürnberger Ungeheuer. --
Doch ich sehe Jhnen an, daß Sie von dem Spazier- gange ermüdet sind. Wenn das Wetter so schön bleibt, so setzen wir ihn wohl morgen ein Stündchen fort, denn ich versichere Sie, wir haben noch viele artige und närri- sche Dinge zu besehen.
Zweiter Brief.
Heute, liebe Freundin, verfolgen wir unsern Spa- ziergang bei trocknem Wetter. Nicht immer werden die Gegenstände so lustig seyn, und ich stehe Jhnen nicht da- für, daß nicht eine Thräne dann und wann sich in Jhr Auge stehlen wird. Da stößt uns gleich ein armer Blin- der auf, er singt sein Lied in einfach rührenden Tönen; neben ihm liegt sein treuer Führer, der zottige Hund,
bedenklich hinzu, aber heute ist gerade ein Tag, an dem sich alles vortrefflich praͤsentiren wird. Jch gesteh' Jhnen, liebe Freundin, der Kahlkopf sprach neulich so gut und unbefangen daß ich mich verleiten ließ, vor seinen Tu- bus zu treten. Da zog er unvermerkt an einem Zwirns- faden, und siehe, zwischen meinem Auge und dem gewoͤhn- lichen Fensterglase huͤpfte ein Centaur vorbei, den er aus irgend einem Nuͤrnberger Bilderbogen ausgeschnitten hatte. Schnell zog ich den Kopf beschaͤmt zuruͤck und schlich fort, um einem Andern Platz zu machen. — Aber warum sollt' ich mich schaͤmen? dacht' ich auf dem Heimwege: geschieht es doch in meinem lieben Vaterlande taͤglich, daß die gro- ßen Dichter und Philosophen uns ihre Tubus mit maͤch- tigem Geschrei vor die Augen halten, indem sie uns, Gott weiß, welche Wunderdinge versprechen. Wir sind guther- zig, wir sehen hinein, und was erblicken wir? — Jrgend ein kleines Nuͤrnberger Ungeheuer. —
Doch ich sehe Jhnen an, daß Sie von dem Spazier- gange ermuͤdet sind. Wenn das Wetter so schoͤn bleibt, so setzen wir ihn wohl morgen ein Stuͤndchen fort, denn ich versichere Sie, wir haben noch viele artige und naͤrri- sche Dinge zu besehen.
Zweiter Brief.
Heute, liebe Freundin, verfolgen wir unsern Spa- ziergang bei trocknem Wetter. Nicht immer werden die Gegenstaͤnde so lustig seyn, und ich stehe Jhnen nicht da- fuͤr, daß nicht eine Thraͤne dann und wann sich in Jhr Auge stehlen wird. Da stoͤßt uns gleich ein armer Blin- der auf, er singt sein Lied in einfach ruͤhrenden Toͤnen; neben ihm liegt sein treuer Fuͤhrer, der zottige Hund,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0061"n="57"/>
bedenklich hinzu, aber heute ist gerade ein Tag, an dem<lb/>
sich alles vortrefflich praͤsentiren wird. Jch gesteh' Jhnen,<lb/>
liebe Freundin, der Kahlkopf sprach neulich so gut und<lb/>
unbefangen daß ich mich verleiten ließ, vor seinen Tu-<lb/>
bus zu treten. Da zog er unvermerkt an einem Zwirns-<lb/>
faden, und siehe, zwischen meinem Auge und dem gewoͤhn-<lb/>
lichen Fensterglase huͤpfte ein Centaur vorbei, den er aus<lb/>
irgend einem Nuͤrnberger Bilderbogen ausgeschnitten hatte.<lb/>
Schnell zog ich den Kopf beschaͤmt zuruͤck und schlich fort,<lb/>
um einem Andern Platz zu machen. — Aber warum sollt'<lb/>
ich mich schaͤmen? dacht' ich auf dem Heimwege: geschieht<lb/>
es doch in meinem lieben Vaterlande taͤglich, daß die gro-<lb/>
ßen Dichter und Philosophen uns ihre Tubus mit maͤch-<lb/>
tigem Geschrei vor die Augen halten, indem sie uns, Gott<lb/>
weiß, welche Wunderdinge versprechen. Wir sind guther-<lb/>
zig, wir sehen hinein, und was erblicken wir? — Jrgend<lb/>
ein kleines Nuͤrnberger Ungeheuer. —</p><lb/><p>Doch ich sehe Jhnen an, daß Sie von dem Spazier-<lb/>
gange ermuͤdet sind. Wenn das Wetter so schoͤn bleibt,<lb/>
so setzen wir ihn wohl morgen ein Stuͤndchen fort, denn<lb/>
ich versichere Sie, wir haben noch viele artige und naͤrri-<lb/>
sche Dinge zu besehen.</p></div><lb/><divn="2"><head>Zweiter Brief.</head><lb/><p>Heute, liebe Freundin, verfolgen wir unsern Spa-<lb/>
ziergang bei trocknem Wetter. Nicht immer werden die<lb/>
Gegenstaͤnde so lustig seyn, und ich stehe Jhnen nicht da-<lb/>
fuͤr, daß nicht eine Thraͤne dann und wann sich in Jhr<lb/>
Auge stehlen wird. Da stoͤßt uns gleich ein armer Blin-<lb/>
der auf, er singt sein Lied in einfach ruͤhrenden Toͤnen;<lb/>
neben ihm liegt sein treuer Fuͤhrer, der zottige Hund,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[57/0061]
bedenklich hinzu, aber heute ist gerade ein Tag, an dem
sich alles vortrefflich praͤsentiren wird. Jch gesteh' Jhnen,
liebe Freundin, der Kahlkopf sprach neulich so gut und
unbefangen daß ich mich verleiten ließ, vor seinen Tu-
bus zu treten. Da zog er unvermerkt an einem Zwirns-
faden, und siehe, zwischen meinem Auge und dem gewoͤhn-
lichen Fensterglase huͤpfte ein Centaur vorbei, den er aus
irgend einem Nuͤrnberger Bilderbogen ausgeschnitten hatte.
Schnell zog ich den Kopf beschaͤmt zuruͤck und schlich fort,
um einem Andern Platz zu machen. — Aber warum sollt'
ich mich schaͤmen? dacht' ich auf dem Heimwege: geschieht
es doch in meinem lieben Vaterlande taͤglich, daß die gro-
ßen Dichter und Philosophen uns ihre Tubus mit maͤch-
tigem Geschrei vor die Augen halten, indem sie uns, Gott
weiß, welche Wunderdinge versprechen. Wir sind guther-
zig, wir sehen hinein, und was erblicken wir? — Jrgend
ein kleines Nuͤrnberger Ungeheuer. —
Doch ich sehe Jhnen an, daß Sie von dem Spazier-
gange ermuͤdet sind. Wenn das Wetter so schoͤn bleibt,
so setzen wir ihn wohl morgen ein Stuͤndchen fort, denn
ich versichere Sie, wir haben noch viele artige und naͤrri-
sche Dinge zu besehen.
Zweiter Brief.
Heute, liebe Freundin, verfolgen wir unsern Spa-
ziergang bei trocknem Wetter. Nicht immer werden die
Gegenstaͤnde so lustig seyn, und ich stehe Jhnen nicht da-
fuͤr, daß nicht eine Thraͤne dann und wann sich in Jhr
Auge stehlen wird. Da stoͤßt uns gleich ein armer Blin-
der auf, er singt sein Lied in einfach ruͤhrenden Toͤnen;
neben ihm liegt sein treuer Fuͤhrer, der zottige Hund,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/61>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.