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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.

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keine Art der Eitelkeit auf äußere Vorzüge, das wahre
Schätzenswerthe bei ihr in den Hintergrund stellt; sie scheint
im Gegentheil jene fast ängstlich verbergen zu wollen, so-
bald sie dieses in ihrer Nähe spürt.

Wenn ich weiter nichts von Madame Recamier zu sa-
gen wüßte, so wäre das immer auch schon ziemlich viel,
doch wie gering sind alle jene Eigenschaften gegen die Gü-
te ihres vortrefflichen Herzens! Streng beobachtet sie,
mitten im Strudel der pariser Welt, die Pflichten der Gat-
tin gegen einen wackern Mann, der ihr Vater seyn könn-
te. Selbst die giftigste Verläumdung hat von dieser
Seite sie nicht anzutasten gewagt. Sie war nie Mutter,
aber sie pflegt mit mütterlicher Liebe die Kinder einer Ver-
wandtin, die kindlich an ihr hangen. Sie ist warm, und
vielleicht gar ein wenig schwärmerisch in der Freundschaft,
aber darum nicht minder beständig, wie ihre älteren Freun-
de mich versichert haben. Jndessen, damit das Gemälde
doch nicht ganz ohne Schatten bleibe, will ich sie hier auch
eines kleinen Fehlers zeihen. So rasch und willig sie ist,
ihren Freunden große Opfer zu bringen, so ungern bringt
sie kleine. So lange nicht vom Glück des Freundes,
sondern blos von seinen Wünschen, seinen Freunden die Re-
de ist, so lange erlaubt sie sich wohl zuweilen ohne Be-
denken ihn zu vernachläßigen, um der Gesellschaft zu Lie-
be etwas zu thun, was sie doch fast immer ohne Neigung
thut. Dieser Fehler liegt theils in der Weiblichkeit über-
haupt, deren zarte Natur es mit sich bringt, gern allen,
und oft nur aus Furcht, gefallen zu wollen, theils ist er
von einer gewissen Existenz, in einer Stadt wie Paris, fast
unzertrennlich.

Madame Recamier ist fromm, ohne es scheinen zu
wollen. Führe sie nicht so oft in die Messe, so würde

keine Art der Eitelkeit auf aͤußere Vorzuͤge, das wahre
Schaͤtzenswerthe bei ihr in den Hintergrund stellt; sie scheint
im Gegentheil jene fast aͤngstlich verbergen zu wollen, so-
bald sie dieses in ihrer Naͤhe spuͤrt.

Wenn ich weiter nichts von Madame Recamier zu sa-
gen wuͤßte, so waͤre das immer auch schon ziemlich viel,
doch wie gering sind alle jene Eigenschaften gegen die Guͤ-
te ihres vortrefflichen Herzens! Streng beobachtet sie,
mitten im Strudel der pariser Welt, die Pflichten der Gat-
tin gegen einen wackern Mann, der ihr Vater seyn koͤnn-
te. Selbst die giftigste Verlaͤumdung hat von dieser
Seite sie nicht anzutasten gewagt. Sie war nie Mutter,
aber sie pflegt mit muͤtterlicher Liebe die Kinder einer Ver-
wandtin, die kindlich an ihr hangen. Sie ist warm, und
vielleicht gar ein wenig schwaͤrmerisch in der Freundschaft,
aber darum nicht minder bestaͤndig, wie ihre aͤlteren Freun-
de mich versichert haben. Jndessen, damit das Gemaͤlde
doch nicht ganz ohne Schatten bleibe, will ich sie hier auch
eines kleinen Fehlers zeihen. So rasch und willig sie ist,
ihren Freunden große Opfer zu bringen, so ungern bringt
sie kleine. So lange nicht vom Gluͤck des Freundes,
sondern blos von seinen Wuͤnschen, seinen Freunden die Re-
de ist, so lange erlaubt sie sich wohl zuweilen ohne Be-
denken ihn zu vernachlaͤßigen, um der Gesellschaft zu Lie-
be etwas zu thun, was sie doch fast immer ohne Neigung
thut. Dieser Fehler liegt theils in der Weiblichkeit uͤber-
haupt, deren zarte Natur es mit sich bringt, gern allen,
und oft nur aus Furcht, gefallen zu wollen, theils ist er
von einer gewissen Existenz, in einer Stadt wie Paris, fast
unzertrennlich.

Madame Recamier ist fromm, ohne es scheinen zu
wollen. Fuͤhre sie nicht so oft in die Messe, so wuͤrde

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[112/0116] keine Art der Eitelkeit auf aͤußere Vorzuͤge, das wahre Schaͤtzenswerthe bei ihr in den Hintergrund stellt; sie scheint im Gegentheil jene fast aͤngstlich verbergen zu wollen, so- bald sie dieses in ihrer Naͤhe spuͤrt. Wenn ich weiter nichts von Madame Recamier zu sa- gen wuͤßte, so waͤre das immer auch schon ziemlich viel, doch wie gering sind alle jene Eigenschaften gegen die Guͤ- te ihres vortrefflichen Herzens! Streng beobachtet sie, mitten im Strudel der pariser Welt, die Pflichten der Gat- tin gegen einen wackern Mann, der ihr Vater seyn koͤnn- te. Selbst die giftigste Verlaͤumdung hat von dieser Seite sie nicht anzutasten gewagt. Sie war nie Mutter, aber sie pflegt mit muͤtterlicher Liebe die Kinder einer Ver- wandtin, die kindlich an ihr hangen. Sie ist warm, und vielleicht gar ein wenig schwaͤrmerisch in der Freundschaft, aber darum nicht minder bestaͤndig, wie ihre aͤlteren Freun- de mich versichert haben. Jndessen, damit das Gemaͤlde doch nicht ganz ohne Schatten bleibe, will ich sie hier auch eines kleinen Fehlers zeihen. So rasch und willig sie ist, ihren Freunden große Opfer zu bringen, so ungern bringt sie kleine. So lange nicht vom Gluͤck des Freundes, sondern blos von seinen Wuͤnschen, seinen Freunden die Re- de ist, so lange erlaubt sie sich wohl zuweilen ohne Be- denken ihn zu vernachlaͤßigen, um der Gesellschaft zu Lie- be etwas zu thun, was sie doch fast immer ohne Neigung thut. Dieser Fehler liegt theils in der Weiblichkeit uͤber- haupt, deren zarte Natur es mit sich bringt, gern allen, und oft nur aus Furcht, gefallen zu wollen, theils ist er von einer gewissen Existenz, in einer Stadt wie Paris, fast unzertrennlich. Madame Recamier ist fromm, ohne es scheinen zu wollen. Fuͤhre sie nicht so oft in die Messe, so wuͤrde

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/116>, abgerufen am 27.11.2024.