Kopisch, August: Der Träumer. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–67. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ein Ameishaufen bin ich, den gestört Die Lieb', all meine Sinne sind verkehrt. Am Himmel wankt vor mir der Sterne Gang. Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang! Ich bin die Wachtel, überm Meer verirrt, Kein Land erblickt sie, jagt und schlägt und schwirrt, Dicht unter ihr der Wellen Grabgesang. Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang! In solchen Gedanken kam den beiden Liebenden der Morgen heran, und sie erwarteten mit Ungeduld Strintillo's Erwachen. Don Granco nahm, wie wir wissen, die Sache viel ruhiger, er verließ sich auf seinen Traum, that einen guten Schlaf, erwachte jedoch bei Zeiten, legte sogleich die zierlichsten Kleider an, die sich in seinen Kisten und Kasten vorfanden, und machte sich auf den Weg nach Strintillo's Hause, vor welchem er den guten Giovanni mit seiner Mandoline sitzend fand. Schon hier? fragte Granco. Ja wohl, sagte Giovanni, wir kommen noch zu früh, Don Strintillo ist noch nicht erwacht. O wohl ist er erwacht! rief Strintillo und erschien an der Thür: kommt herein, ihr beiden Herren, ihr sollt Bescheid haben. Ich habe einen Traum gehabt, der an Schönheit seines Gleichen sucht und so deutlich ist, daß ihr ihn euch selbst auslegen könnt, so wenig ihr vom Traumauslegen versteht. Ein Ameishaufen bin ich, den gestört Die Lieb', all meine Sinne sind verkehrt. Am Himmel wankt vor mir der Sterne Gang. Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang! Ich bin die Wachtel, überm Meer verirrt, Kein Land erblickt sie, jagt und schlägt und schwirrt, Dicht unter ihr der Wellen Grabgesang. Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang! In solchen Gedanken kam den beiden Liebenden der Morgen heran, und sie erwarteten mit Ungeduld Strintillo's Erwachen. Don Granco nahm, wie wir wissen, die Sache viel ruhiger, er verließ sich auf seinen Traum, that einen guten Schlaf, erwachte jedoch bei Zeiten, legte sogleich die zierlichsten Kleider an, die sich in seinen Kisten und Kasten vorfanden, und machte sich auf den Weg nach Strintillo's Hause, vor welchem er den guten Giovanni mit seiner Mandoline sitzend fand. Schon hier? fragte Granco. Ja wohl, sagte Giovanni, wir kommen noch zu früh, Don Strintillo ist noch nicht erwacht. O wohl ist er erwacht! rief Strintillo und erschien an der Thür: kommt herein, ihr beiden Herren, ihr sollt Bescheid haben. Ich habe einen Traum gehabt, der an Schönheit seines Gleichen sucht und so deutlich ist, daß ihr ihn euch selbst auslegen könnt, so wenig ihr vom Traumauslegen versteht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0018"/> <lg n="3"> <l>Ein Ameishaufen bin ich, den gestört</l> <l>Die Lieb', all meine Sinne sind verkehrt.</l> <l>Am Himmel wankt vor mir der Sterne Gang.</l> <l>Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang!</l> </lg> <lg n="4"> <l>Ich bin die Wachtel, überm Meer verirrt,</l> <l>Kein Land erblickt sie, jagt und schlägt und schwirrt,</l> <l>Dicht unter ihr der Wellen Grabgesang.</l> <l>Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang!</l> </lg> </lg> <p>In solchen Gedanken kam den beiden Liebenden der Morgen heran, und sie erwarteten mit Ungeduld Strintillo's Erwachen.</p><lb/> <p>Don Granco nahm, wie wir wissen, die Sache viel ruhiger, er verließ sich auf seinen Traum, that einen guten Schlaf, erwachte jedoch bei Zeiten, legte sogleich die zierlichsten Kleider an, die sich in seinen Kisten und Kasten vorfanden, und machte sich auf den Weg nach Strintillo's Hause, vor welchem er den guten Giovanni mit seiner Mandoline sitzend fand.</p><lb/> <p>Schon hier? fragte Granco.</p><lb/> <p>Ja wohl, sagte Giovanni, wir kommen noch zu früh, Don Strintillo ist noch nicht erwacht.</p><lb/> <p>O wohl ist er erwacht! rief Strintillo und erschien an der Thür: kommt herein, ihr beiden Herren, ihr sollt Bescheid haben. Ich habe einen Traum gehabt, der an Schönheit seines Gleichen sucht und so deutlich ist, daß ihr ihn euch selbst auslegen könnt, so wenig ihr vom Traumauslegen versteht.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
Ein Ameishaufen bin ich, den gestört Die Lieb', all meine Sinne sind verkehrt. Am Himmel wankt vor mir der Sterne Gang. Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang!
Ich bin die Wachtel, überm Meer verirrt, Kein Land erblickt sie, jagt und schlägt und schwirrt, Dicht unter ihr der Wellen Grabgesang. Ach Gott! ach Gott! wie ist die Nacht so lang!
In solchen Gedanken kam den beiden Liebenden der Morgen heran, und sie erwarteten mit Ungeduld Strintillo's Erwachen.
Don Granco nahm, wie wir wissen, die Sache viel ruhiger, er verließ sich auf seinen Traum, that einen guten Schlaf, erwachte jedoch bei Zeiten, legte sogleich die zierlichsten Kleider an, die sich in seinen Kisten und Kasten vorfanden, und machte sich auf den Weg nach Strintillo's Hause, vor welchem er den guten Giovanni mit seiner Mandoline sitzend fand.
Schon hier? fragte Granco.
Ja wohl, sagte Giovanni, wir kommen noch zu früh, Don Strintillo ist noch nicht erwacht.
O wohl ist er erwacht! rief Strintillo und erschien an der Thür: kommt herein, ihr beiden Herren, ihr sollt Bescheid haben. Ich habe einen Traum gehabt, der an Schönheit seines Gleichen sucht und so deutlich ist, daß ihr ihn euch selbst auslegen könnt, so wenig ihr vom Traumauslegen versteht.
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Zitationshilfe: | Kopisch, August: Der Träumer. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–67. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kopisch_traeumer_1910/18>, abgerufen am 16.07.2024. |