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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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mir zehren, und Einer grabt mich auf und gemahnt mich, daß ich ihr Bruder bin, glaubst du nicht, daß ich meine Gebeine zusammenklaub' und mich hinlege, wo mich keiner mehr finden kann? Drin im Gewölb hast du Vitriol stehen, man kann damit wegbrennen und wegätzen, Blutfleck' sogar, wenn Einer einen Andern hat todtgeschlagen; das will mir aber kein Mensch wegnehmen vom Herzen, was mich seit zehn Jahren brennt und plagt. Du bist ihr Bruder, sagst du, frag anders: War sie meine Schwester? Du hast also schon vergessen, wie ich mir hab' die Krije*) schneiden müssen vor zehn Jahren, wie ich hab' müssen Schiwe**) sitzen, weil ich damals ihr Bruder war? Jetzt bin ich's nicht mehr. Der Narr, der ich wär'!

Es war ersichtlich an dem Schweigen der alten Frau, die die zornige Wucht dieser Worte wie ein schweres Gewitter über ihr Haupt hingehen ließ, daß sie der Rede Josseph's kein Gegengewicht entgegenzusetzen hatte. Sie hatte in ihr Wunden aufgerissen, die noch nicht ausgeblutet. Wie schweres Leid bei altgewordenen Menschen es zu thun pflegt, nickte sie beständig mit dem Kopfe, als gestehe sie die Wahrheiten ein, die in so furchtbarer Gestalt aus dem Munde ihres Sohnes kamen. Dennoch sprach sie, nachdem sie lange genug geschwiegen, mit einer gewissen Milde.

*) Das Kleid zerrissen, aus Trauer um die Gestorbenen.
**) Sieben Tage trauern.

mir zehren, und Einer grabt mich auf und gemahnt mich, daß ich ihr Bruder bin, glaubst du nicht, daß ich meine Gebeine zusammenklaub' und mich hinlege, wo mich keiner mehr finden kann? Drin im Gewölb hast du Vitriol stehen, man kann damit wegbrennen und wegätzen, Blutfleck' sogar, wenn Einer einen Andern hat todtgeschlagen; das will mir aber kein Mensch wegnehmen vom Herzen, was mich seit zehn Jahren brennt und plagt. Du bist ihr Bruder, sagst du, frag anders: War sie meine Schwester? Du hast also schon vergessen, wie ich mir hab' die Krije*) schneiden müssen vor zehn Jahren, wie ich hab' müssen Schiwe**) sitzen, weil ich damals ihr Bruder war? Jetzt bin ich's nicht mehr. Der Narr, der ich wär'!

Es war ersichtlich an dem Schweigen der alten Frau, die die zornige Wucht dieser Worte wie ein schweres Gewitter über ihr Haupt hingehen ließ, daß sie der Rede Josseph's kein Gegengewicht entgegenzusetzen hatte. Sie hatte in ihr Wunden aufgerissen, die noch nicht ausgeblutet. Wie schweres Leid bei altgewordenen Menschen es zu thun pflegt, nickte sie beständig mit dem Kopfe, als gestehe sie die Wahrheiten ein, die in so furchtbarer Gestalt aus dem Munde ihres Sohnes kamen. Dennoch sprach sie, nachdem sie lange genug geschwiegen, mit einer gewissen Milde.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/26>, abgerufen am 03.05.2024.