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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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2. Ein Kind ist aus dem Hause gegangen.

Die Nacht, die diesem Tage folgte, war eine der traurigsten, die je in dem einzigen Judenhause des Dorfes verlebt worden. Es war, als ginge ein in den Lüften klagendes Wimmern, ein unterdrückter, unausgesprochener Jammer auf stillen Socken durch alle Räume. Die Großmutter hatte sich früher, als sie sonst pflegte, zur Ruhe begeben; mitten in der Nacht wachte sie auf, und man hörte sie über unsägliches Wehe klagen. Auf die Frage ihres Sohnes: wo es ihr fehle, gab sie lange keine Antwort, bis sie auf sein inständiges Bitten und Drängen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach. Das schnitt ihm durchs Herz, doch bewältigte er diese Regung und fast zornig fuhr er sie mit den harten Worten an:

Weinst du nicht ihr nach? Zehn Jahr sind vergangen, daß sie fort ist aus dem Haus, die Verschwarzte, und grad heute verstörst du mir und dir die Nacht?

Gerad heut, gerad heut, klagte die alte Frau, die sich im Bett aufgerichtet hatte, mir ist ja, als wär' sie erst heut aus dem Hause gegangen. Hast du sie auch recht betrachtet, Josseph, wie schlecht sie aussieht? Gott, Lebendiger im Himmel! Sie hat ja mehr kein Fleisch auf sich, ein jung Weib, und ist noch keine dreißig Jahr alt! Das heißt sich abgeplagt und abgezehrt!

2. Ein Kind ist aus dem Hause gegangen.

Die Nacht, die diesem Tage folgte, war eine der traurigsten, die je in dem einzigen Judenhause des Dorfes verlebt worden. Es war, als ginge ein in den Lüften klagendes Wimmern, ein unterdrückter, unausgesprochener Jammer auf stillen Socken durch alle Räume. Die Großmutter hatte sich früher, als sie sonst pflegte, zur Ruhe begeben; mitten in der Nacht wachte sie auf, und man hörte sie über unsägliches Wehe klagen. Auf die Frage ihres Sohnes: wo es ihr fehle, gab sie lange keine Antwort, bis sie auf sein inständiges Bitten und Drängen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach. Das schnitt ihm durchs Herz, doch bewältigte er diese Regung und fast zornig fuhr er sie mit den harten Worten an:

Weinst du nicht ihr nach? Zehn Jahr sind vergangen, daß sie fort ist aus dem Haus, die Verschwarzte, und grad heute verstörst du mir und dir die Nacht?

Gerad heut, gerad heut, klagte die alte Frau, die sich im Bett aufgerichtet hatte, mir ist ja, als wär' sie erst heut aus dem Hause gegangen. Hast du sie auch recht betrachtet, Josseph, wie schlecht sie aussieht? Gott, Lebendiger im Himmel! Sie hat ja mehr kein Fleisch auf sich, ein jung Weib, und ist noch keine dreißig Jahr alt! Das heißt sich abgeplagt und abgezehrt!

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[0024] 2. Ein Kind ist aus dem Hause gegangen. Die Nacht, die diesem Tage folgte, war eine der traurigsten, die je in dem einzigen Judenhause des Dorfes verlebt worden. Es war, als ginge ein in den Lüften klagendes Wimmern, ein unterdrückter, unausgesprochener Jammer auf stillen Socken durch alle Räume. Die Großmutter hatte sich früher, als sie sonst pflegte, zur Ruhe begeben; mitten in der Nacht wachte sie auf, und man hörte sie über unsägliches Wehe klagen. Auf die Frage ihres Sohnes: wo es ihr fehle, gab sie lange keine Antwort, bis sie auf sein inständiges Bitten und Drängen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach. Das schnitt ihm durchs Herz, doch bewältigte er diese Regung und fast zornig fuhr er sie mit den harten Worten an: Weinst du nicht ihr nach? Zehn Jahr sind vergangen, daß sie fort ist aus dem Haus, die Verschwarzte, und grad heute verstörst du mir und dir die Nacht? Gerad heut, gerad heut, klagte die alte Frau, die sich im Bett aufgerichtet hatte, mir ist ja, als wär' sie erst heut aus dem Hause gegangen. Hast du sie auch recht betrachtet, Josseph, wie schlecht sie aussieht? Gott, Lebendiger im Himmel! Sie hat ja mehr kein Fleisch auf sich, ein jung Weib, und ist noch keine dreißig Jahr alt! Das heißt sich abgeplagt und abgezehrt!

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/24>, abgerufen am 23.11.2024.