Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.wie im Lieben, begnügen sich nicht lange mit dem Verharren bloßer Gedankenthätigkeit; sie möchten eingreifen und thatsächlich darthun, was sie bewegt, was sie von sich zu werfen wünschen; entweder die geballte Faust oder das offene Herz; -- ein Anderes, Vermittelndes kennen sie nicht. Von einem Vogel erzählt den Kindern die Sage, daß er die hungerigen Jungen mit seinem eigenen Blute letzt. Das ist der Siegesmuth solchen Kampfes, wie ihn Josseph mit sich, mit seiner Schwester und der ganzen Welt rang. Das Gleichniß bedarf nicht erst erklärt zu werden. Wen wird es wundern, wenn diese Seele noch Wandlungen durchzukämpfen hat, die sie jetzt in ihrem eigenen Blute erstickt glaubt? -- Schritt auf Schritt müssen wir nun diese seltsame Natur begleiten, keinen Augenblick sie außer Acht lassen. Könnten wir die Athemzüge seines Schlafes belauschen, die Tropfen perlenden Schweißes zählen, die unruhige Träume auf seiner Stirne hervorrufen, wir könnten dann voraussagen, ob Lösung oder völliger Bruch in naher Aussicht sind. Wir aber vermögen nur zu beobachten, wo Josseph ringend mit wirklichen Verhältnissen zusammentrifft; ein anderer Einblick ist uns nicht gegönnt. Wir treffen ihn eines Tages auf der Wandelung nach einem entfernten Dorfe begriffen, wohin er bestellt war, um dort Wolle und Ochsenhäute bei einigen wie im Lieben, begnügen sich nicht lange mit dem Verharren bloßer Gedankenthätigkeit; sie möchten eingreifen und thatsächlich darthun, was sie bewegt, was sie von sich zu werfen wünschen; entweder die geballte Faust oder das offene Herz; — ein Anderes, Vermittelndes kennen sie nicht. Von einem Vogel erzählt den Kindern die Sage, daß er die hungerigen Jungen mit seinem eigenen Blute letzt. Das ist der Siegesmuth solchen Kampfes, wie ihn Josseph mit sich, mit seiner Schwester und der ganzen Welt rang. Das Gleichniß bedarf nicht erst erklärt zu werden. Wen wird es wundern, wenn diese Seele noch Wandlungen durchzukämpfen hat, die sie jetzt in ihrem eigenen Blute erstickt glaubt? — Schritt auf Schritt müssen wir nun diese seltsame Natur begleiten, keinen Augenblick sie außer Acht lassen. Könnten wir die Athemzüge seines Schlafes belauschen, die Tropfen perlenden Schweißes zählen, die unruhige Träume auf seiner Stirne hervorrufen, wir könnten dann voraussagen, ob Lösung oder völliger Bruch in naher Aussicht sind. Wir aber vermögen nur zu beobachten, wo Josseph ringend mit wirklichen Verhältnissen zusammentrifft; ein anderer Einblick ist uns nicht gegönnt. Wir treffen ihn eines Tages auf der Wandelung nach einem entfernten Dorfe begriffen, wohin er bestellt war, um dort Wolle und Ochsenhäute bei einigen <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="8"> <p><pb facs="#f0115"/> wie im Lieben, begnügen sich nicht lange mit dem Verharren bloßer Gedankenthätigkeit; sie möchten eingreifen und thatsächlich darthun, was sie bewegt, was sie von sich zu werfen wünschen; entweder die geballte Faust oder das offene Herz; — ein Anderes, Vermittelndes kennen sie nicht.</p><lb/> <p>Von einem Vogel erzählt den Kindern die Sage, daß er die hungerigen Jungen mit seinem eigenen Blute letzt. Das ist der Siegesmuth solchen Kampfes, wie ihn Josseph mit sich, mit seiner Schwester und der ganzen Welt rang. Das Gleichniß bedarf nicht erst erklärt zu werden.</p><lb/> <p>Wen wird es wundern, wenn diese Seele noch Wandlungen durchzukämpfen hat, die sie jetzt in ihrem eigenen Blute erstickt glaubt? —</p><lb/> <p>Schritt auf Schritt müssen wir nun diese seltsame Natur begleiten, keinen Augenblick sie außer Acht lassen. Könnten wir die Athemzüge seines Schlafes belauschen, die Tropfen perlenden Schweißes zählen, die unruhige Träume auf seiner Stirne hervorrufen, wir könnten dann voraussagen, ob Lösung oder völliger Bruch in naher Aussicht sind. Wir aber vermögen nur zu beobachten, wo Josseph ringend mit wirklichen Verhältnissen zusammentrifft; ein anderer Einblick ist uns nicht gegönnt.</p><lb/> <p>Wir treffen ihn eines Tages auf der Wandelung nach einem entfernten Dorfe begriffen, wohin er bestellt war, um dort Wolle und Ochsenhäute bei einigen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0115]
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Von einem Vogel erzählt den Kindern die Sage, daß er die hungerigen Jungen mit seinem eigenen Blute letzt. Das ist der Siegesmuth solchen Kampfes, wie ihn Josseph mit sich, mit seiner Schwester und der ganzen Welt rang. Das Gleichniß bedarf nicht erst erklärt zu werden.
Wen wird es wundern, wenn diese Seele noch Wandlungen durchzukämpfen hat, die sie jetzt in ihrem eigenen Blute erstickt glaubt? —
Schritt auf Schritt müssen wir nun diese seltsame Natur begleiten, keinen Augenblick sie außer Acht lassen. Könnten wir die Athemzüge seines Schlafes belauschen, die Tropfen perlenden Schweißes zählen, die unruhige Träume auf seiner Stirne hervorrufen, wir könnten dann voraussagen, ob Lösung oder völliger Bruch in naher Aussicht sind. Wir aber vermögen nur zu beobachten, wo Josseph ringend mit wirklichen Verhältnissen zusammentrifft; ein anderer Einblick ist uns nicht gegönnt.
Wir treffen ihn eines Tages auf der Wandelung nach einem entfernten Dorfe begriffen, wohin er bestellt war, um dort Wolle und Ochsenhäute bei einigen
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/115>, abgerufen am 23.06.2024. |