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Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.

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Grimm, den Sammlern der deutschen Kinder- und Hausmärchen, vertretene pko_047.002
Meinung, daß in diesen uralte Anschauungen germanischer Vorzeit pko_047.003
treu bewahrt wären, trifft keineswegs zu, denn die meisten sind pko_047.004
nachweislich erst in und seit dem Hochmittelalter aus der näheren oder pko_047.005
ferneren Fremde eingeführt worden. Das Märchen ist eine phantasievoll pko_047.006
ausgeschmückte spannende Erzählung mit glücklichem, naiven pko_047.007
Gerechtigkeitssinn befriedigendem Ausgang, deren typisierte (menschliche pko_047.008
oder tierische) Helden in einem nicht näher bezeichneten Irgendwo pko_047.009
und Irgendwann Wunderbares erleben und mit Zauberkräften die pko_047.010
Schranken der Naturgesetze zu durchbrechen vermögen. Bunte, nicht pko_047.011
tiefe Erfindung kennzeichnet das Märchen; es dringt, wie das geistige pko_047.012
Auge des Kindes, nicht in das innere Wesen der Dinge, es bleibt auf pko_047.013
der Oberfläche von Begebenheiten wie Personen haften.

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Eine Sonderform des Märchens ist die Legende (lat. "das zu Lesende"), pko_047.015
welche die wunderreiche Lebens- und Leidensgeschichte der Heiligen pko_047.016
oder des Heilands selbst oder einzelne wunderbare Ereignisse ihres pko_047.017
Erdenwallens in Vers (Goethe: "Legende vom Hufeisen") oder Prosa pko_047.018
erzählt.1)

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Die Kurzgeschichte ist eine gedanklich wie formal anspruchslose, bloß pko_047.020
entspannender Unterhaltung dienende Erzählung alltäglicher, aber pko_047.021
eigenartig angeschauter Vorgänge mit unerwartetem, oft verblüffendem pko_047.022
Schluß; sie hat sich neuestens in Zeitung und Zeitschrift als ständiger pko_047.023
Artikel eingebürgert (Hans Franck, Oscar Maria Graf, Karel Capek).

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Weit höher steht nach Gehalt und Form die Anekdote (griech. pko_047.025
"Unveröffentlichtes"). Sie ist knappster, an eine bestimmte, meist pko_047.026
historische Persönlichkeit gehefteter Bericht über irgend eine absonderliche pko_047.027
Begebenheit oder witzige Äußerung; ihre unübertroffenen Meister pko_047.028
sind H. v. Kleist und J. P. Hebel ("Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes"). pko_047.029
In unseren Tagen hat Wilhelm Schäfer die Anekdote durch pko_047.030
symbolische Vertiefung der Handlung zu einem Mittelding zwischen pko_047.031
Novelle und Kurzgeschichte ausgeweitet.

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Von Ur- wie Neumärchen zu sondern ist die (besonders in der deutschen pko_047.033
Romantik beliebte) Märchennovelle, die das Märchenschema durch philosophisch-symbolische pko_047.034
Vertiefung oder phantastisch-humorige Aufschwellung zu umfänglicherer pko_047.035
Erzählung ausweitet (Goethe, Novalis, Tieck, Arnim, Brentano, Hoffmann).
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Erst in neuester Zeit ist sie Gegenstand weltlicher Prosaepik geworden (G. Keller, pko_047.038
Flaubert, Tolstoi, Binding).

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Eine Sonderform des Märchens ist die Legénde (lat. „das zu Lesende“), pko_047.015
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Die Kurzgeschichte ist eine gedanklich wie formal anspruchslose, bloß pko_047.020
entspannender Unterhaltung dienende Erzählung alltäglicher, aber pko_047.021
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Weit höher steht nach Gehalt und Form die Anekdote (griech. pko_047.025
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[47/0051] pko_047.001 Grimm, den Sammlern der deutschen Kinder- und Hausmärchen, vertretene pko_047.002 Meinung, daß in diesen uralte Anschauungen germanischer Vorzeit pko_047.003 treu bewahrt wären, trifft keineswegs zu, denn die meisten sind pko_047.004 nachweislich erst in und seit dem Hochmittelalter aus der näheren oder pko_047.005 ferneren Fremde eingeführt worden. Das Märchen ist eine phantasievoll pko_047.006 ausgeschmückte spannende Erzählung mit glücklichem, naiven pko_047.007 Gerechtigkeitssinn befriedigendem Ausgang, deren typisierte (menschliche pko_047.008 oder tierische) Helden in einem nicht näher bezeichneten Irgendwo pko_047.009 und Irgendwann Wunderbares erleben und mit Zauberkräften die pko_047.010 Schranken der Naturgesetze zu durchbrechen vermögen. Bunte, nicht pko_047.011 tiefe Erfindung kennzeichnet das Märchen; es dringt, wie das geistige pko_047.012 Auge des Kindes, nicht in das innere Wesen der Dinge, es bleibt auf pko_047.013 der Oberfläche von Begebenheiten wie Personen haften. pko_047.014 Eine Sonderform des Märchens ist die Legénde (lat. „das zu Lesende“), pko_047.015 welche die wunderreiche Lebens- und Leidensgeschichte der Heiligen pko_047.016 oder des Heilands selbst oder einzelne wunderbare Ereignisse ihres pko_047.017 Erdenwallens in Vers (Goethe: „Legende vom Hufeisen“) oder Prosa pko_047.018 erzählt. 1) pko_047.019 Die Kurzgeschichte ist eine gedanklich wie formal anspruchslose, bloß pko_047.020 entspannender Unterhaltung dienende Erzählung alltäglicher, aber pko_047.021 eigenartig angeschauter Vorgänge mit unerwartetem, oft verblüffendem pko_047.022 Schluß; sie hat sich neuestens in Zeitung und Zeitschrift als ständiger pko_047.023 Artikel eingebürgert (Hans Franck, Oscar Maria Graf, Karel Čapek). pko_047.024 Weit höher steht nach Gehalt und Form die Anekdote (griech. pko_047.025 „Unveröffentlichtes“). Sie ist knappster, an eine bestimmte, meist pko_047.026 historische Persönlichkeit gehefteter Bericht über irgend eine absonderliche pko_047.027 Begebenheit oder witzige Äußerung; ihre unübertroffenen Meister pko_047.028 sind H. v. Kleist und J. P. Hebel („Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“). pko_047.029 In unseren Tagen hat Wilhelm Schäfer die Anekdote durch pko_047.030 symbolische Vertiefung der Handlung zu einem Mittelding zwischen pko_047.031 Novelle und Kurzgeschichte ausgeweitet. 2) 1) pko_047.037 Erst in neuester Zeit ist sie Gegenstand weltlicher Prosaepik geworden (G. Keller, pko_047.038 Flaubert, Tolstoi, Binding). 2) pko_047.032 Von Ur- wie Neumärchen zu sondern ist die (besonders in der deutschen pko_047.033 Romantik beliebte) Märchennovelle, die das Märchenschema durch philosophisch-symbolische pko_047.034 Vertiefung oder phantastisch-humorige Aufschwellung zu umfänglicherer pko_047.035 Erzählung ausweitet (Goethe, Novalis, Tieck, Arnim, Brentano, Hoffmann).

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Zitationshilfe: Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/51>, abgerufen am 21.11.2024.