Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949. pko_048.001 C. Dramatik. pko_048.002 pko_048.027 1) pko_048.032 Äußere passive Hemmung bereitet ein unaufhebbarer physiologischer (Vererbung) pko_048.033 oder soziologischer Zustand, innere eine entsprechende seelische Veranlagung (z. pko_048.034 B. Hamlets handlungsscheuer grüblerischer Hang, der seinen klaren und einheitlichen pko_048.035 Willen nicht zur Tat werden läßt). 2) pko_048.036
Die Handlungsträger (die sog. dramatischen Charaktere) haben Daseinsrecht und pko_048.037 Interesse nur in bezug auf die (zielstrebige) Handlung, jede darüber hinausgehende pko_048.038 individualisierende Charaktergestaltung (Goethe, Romantik) ist bereits Übergang pko_048.039 in die (extensive) epische Gattung. pko_048.001 C. Dramatik. pko_048.002 pko_048.027 1) pko_048.032 Äußere passive Hemmung bereitet ein unaufhebbarer physiologischer (Vererbung) pko_048.033 oder soziologischer Zustand, innere eine entsprechende seelische Veranlagung (z. pko_048.034 B. Hamlets handlungsscheuer grüblerischer Hang, der seinen klaren und einheitlichen pko_048.035 Willen nicht zur Tat werden läßt). 2) pko_048.036
Die Handlungsträger (die sog. dramatischen Charaktere) haben Daseinsrecht und pko_048.037 Interesse nur in bezug auf die (zielstrebige) Handlung, jede darüber hinausgehende pko_048.038 individualisierende Charaktergestaltung (Goethe, Romantik) ist bereits Übergang pko_048.039 in die (extensive) epische Gattung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0052" n="48"/> </div> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pko_048.001"/> C. <hi rendition="#g">Dramatik.</hi></hi> </head> <p><lb n="pko_048.002"/> Die Willensaktion, deren Ziel im Erreichen oder Vermeiden eines <lb n="pko_048.003"/> bestimmten Zustandes liegt, ist das Urbild aller Tätigkeit. Davon schafft <lb n="pko_048.004"/> das Drama (griech. „Handlung“) ein Abbild. Im Unterschied zum <lb n="pko_048.005"/> „schauenden“ Epiker, der betrachtend erkennt, erlebt der Dramatiker <lb n="pko_048.006"/> die Welt als Tätigkeit, als Kräftespiel, als Kampf; eine einzelne Handlung <lb n="pko_048.007"/> reißt er aus dem Seinszusammenhang und gestaltet dieses scharf <lb n="pko_048.008"/> umgrenzte Stück Weltgeschehen in geballter Zusammendrängung, unter <lb n="pko_048.009"/> Verzicht auf Extensität; wollende, handelnde, kämpfende Menschen <lb n="pko_048.010"/> führt er vor, deren Zielstrebigkeit Hemmung und durch das Hemmnis <lb n="pko_048.011"/> erst recht Steigerung erfährt. Dieses Wechselspiel von Bestrebung und <lb n="pko_048.012"/> Widerstand kann in einer äußeren zwischenmenschlichen Handlung vor <lb n="pko_048.013"/> sich gehen, im Aneinandergeraten zweier gegensätzlicher Willensträger, <lb n="pko_048.014"/> oder in einer innenmenschlichen Handlung, im Auseinanderbrechen einer <lb n="pko_048.015"/> einheitlichen Persönlichkeit in widerstreitendes Begehren (Konflikt zwischen <lb n="pko_048.016"/> Neigung und Pflicht, zwischen sittlichem Wollen und naturhaftem <lb n="pko_048.017"/> Trieb); die (äußeren und inneren) Hemmungen<note xml:id="PKO_048_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_048.032"/> Äußere passive Hemmung bereitet ein unaufhebbarer physiologischer (Vererbung) <lb n="pko_048.033"/> oder soziologischer Zustand, innere eine entsprechende seelische Veranlagung (z. <lb n="pko_048.034"/> B. Hamlets handlungsscheuer grüblerischer Hang, der seinen klaren und einheitlichen <lb n="pko_048.035"/> Willen nicht zur Tat werden läßt).</note> sind selber nicht immer <lb n="pko_048.018"/> aktive Kräfte, sondern können mitunter ruhende Zuständlichkeiten sein, <lb n="pko_048.019"/> deren bloße Existenz das zielstrebige Subjekt schwer behindert: man <lb n="pko_048.020"/> spricht im einen Fall von <hi rendition="#i">Kampfdrama</hi> (im deutschen Schrifttum ist <lb n="pko_048.021"/> Schiller der ausgesprochenste Kampfdramatiker), im andern von <hi rendition="#i">Stauungsdrama</hi> <lb n="pko_048.022"/> (antikes und modernes Schicksalsdrama, naturalistisches <lb n="pko_048.023"/> Milieu-Drama). Das Drama stellt demnach eine zielstrebige, durch aktive <lb n="pko_048.024"/> Gegenwirkung oder passiven Widerstand gehemmte Handlung dar, <lb n="pko_048.025"/> welche die Träger dieser Zielstrebigkeit und Hemmung vermittelst leibhafter <lb n="pko_048.026"/> Gebärdung und Wechselrede vorführen.<note xml:id="PKO_048_2" place="foot" n="2)"><lb n="pko_048.036"/> Die Handlungsträger (die sog. dramatischen Charaktere) haben Daseinsrecht und <lb n="pko_048.037"/> Interesse nur in bezug auf die (zielstrebige) Handlung, jede darüber hinausgehende <lb n="pko_048.038"/> individualisierende Charaktergestaltung (Goethe, Romantik) ist bereits Übergang <lb n="pko_048.039"/> in die (extensive) epische Gattung.</note></p> <p><lb n="pko_048.027"/> Durch solche Leibhaftigkeit überschreitet das Drama die Grenzen der <lb n="pko_048.028"/> Wortkunst. Lyrik und Epik wirken allein durch das Wort, sie stellen <lb n="pko_048.029"/> dar durch das Mittel der Sprache; beim Drama („Schau-Spiel“) tritt <lb n="pko_048.030"/> zur vermittelten inneren Schau die unmittelbare äußere. Vermöge der <lb n="pko_048.031"/> leibhaften Vorführung von Personen ist es darauf angelegt, aus dem </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [48/0052]
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C. Dramatik. pko_048.002
Die Willensaktion, deren Ziel im Erreichen oder Vermeiden eines pko_048.003
bestimmten Zustandes liegt, ist das Urbild aller Tätigkeit. Davon schafft pko_048.004
das Drama (griech. „Handlung“) ein Abbild. Im Unterschied zum pko_048.005
„schauenden“ Epiker, der betrachtend erkennt, erlebt der Dramatiker pko_048.006
die Welt als Tätigkeit, als Kräftespiel, als Kampf; eine einzelne Handlung pko_048.007
reißt er aus dem Seinszusammenhang und gestaltet dieses scharf pko_048.008
umgrenzte Stück Weltgeschehen in geballter Zusammendrängung, unter pko_048.009
Verzicht auf Extensität; wollende, handelnde, kämpfende Menschen pko_048.010
führt er vor, deren Zielstrebigkeit Hemmung und durch das Hemmnis pko_048.011
erst recht Steigerung erfährt. Dieses Wechselspiel von Bestrebung und pko_048.012
Widerstand kann in einer äußeren zwischenmenschlichen Handlung vor pko_048.013
sich gehen, im Aneinandergeraten zweier gegensätzlicher Willensträger, pko_048.014
oder in einer innenmenschlichen Handlung, im Auseinanderbrechen einer pko_048.015
einheitlichen Persönlichkeit in widerstreitendes Begehren (Konflikt zwischen pko_048.016
Neigung und Pflicht, zwischen sittlichem Wollen und naturhaftem pko_048.017
Trieb); die (äußeren und inneren) Hemmungen 1) sind selber nicht immer pko_048.018
aktive Kräfte, sondern können mitunter ruhende Zuständlichkeiten sein, pko_048.019
deren bloße Existenz das zielstrebige Subjekt schwer behindert: man pko_048.020
spricht im einen Fall von Kampfdrama (im deutschen Schrifttum ist pko_048.021
Schiller der ausgesprochenste Kampfdramatiker), im andern von Stauungsdrama pko_048.022
(antikes und modernes Schicksalsdrama, naturalistisches pko_048.023
Milieu-Drama). Das Drama stellt demnach eine zielstrebige, durch aktive pko_048.024
Gegenwirkung oder passiven Widerstand gehemmte Handlung dar, pko_048.025
welche die Träger dieser Zielstrebigkeit und Hemmung vermittelst leibhafter pko_048.026
Gebärdung und Wechselrede vorführen. 2)
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Durch solche Leibhaftigkeit überschreitet das Drama die Grenzen der pko_048.028
Wortkunst. Lyrik und Epik wirken allein durch das Wort, sie stellen pko_048.029
dar durch das Mittel der Sprache; beim Drama („Schau-Spiel“) tritt pko_048.030
zur vermittelten inneren Schau die unmittelbare äußere. Vermöge der pko_048.031
leibhaften Vorführung von Personen ist es darauf angelegt, aus dem
1) pko_048.032
Äußere passive Hemmung bereitet ein unaufhebbarer physiologischer (Vererbung) pko_048.033
oder soziologischer Zustand, innere eine entsprechende seelische Veranlagung (z. pko_048.034
B. Hamlets handlungsscheuer grüblerischer Hang, der seinen klaren und einheitlichen pko_048.035
Willen nicht zur Tat werden läßt).
2) pko_048.036
Die Handlungsträger (die sog. dramatischen Charaktere) haben Daseinsrecht und pko_048.037
Interesse nur in bezug auf die (zielstrebige) Handlung, jede darüber hinausgehende pko_048.038
individualisierende Charaktergestaltung (Goethe, Romantik) ist bereits Übergang pko_048.039
in die (extensive) epische Gattung.
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Zitationshilfe: | Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/52>, abgerufen am 22.07.2024. |