Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.pko_046.001 pko_046.008 pko_046.024 pko_046.029 1) pko_046.033 Für lässigere Form hat sich der anspruchslose Gattungsname Erzählung (im pko_046.034 engeren Sinne) eingebürgert. 2) pko_046.035
Statt zwischen Volks- und Kunstmärchen (auch die Grimmschen Märchen sind pko_046.036 Kunstleistung, Ergebnis hohen und in rastloser Feilarbeit erst allmählich erworbenen pko_046.037 stilistischen Könnens) unterscheidet man besser zwischen Ur- und pko_046.038 Neumärchen. Während das Urmärchen durch den Volksmund gegangen, in wirklicher pko_046.039 Gemeinschaftserzählung "zersagt" ist, entsteht das Neumärchen aus willkürlicher pko_046.040 Kombination echter Märchenmotive durch ein schriftstellendes Individuum. pko_046.001 pko_046.008 pko_046.024 pko_046.029 1) pko_046.033 Für lässigere Form hat sich der anspruchslose Gattungsname Erzählung (im pko_046.034 engeren Sinne) eingebürgert. 2) pko_046.035
Statt zwischen Volks- und Kunstmärchen (auch die Grimmschen Märchen sind pko_046.036 Kunstleistung, Ergebnis hohen und in rastloser Feilarbeit erst allmählich erworbenen pko_046.037 stilistischen Könnens) unterscheidet man besser zwischen Ur- und pko_046.038 Neumärchen. Während das Urmärchen durch den Volksmund gegangen, in wirklicher pko_046.039 Gemeinschaftserzählung „zersagt“ ist, entsteht das Neumärchen aus willkürlicher pko_046.040 Kombination echter Märchenmotive durch ein schriftstellendes Individuum. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0050" n="46"/><lb n="pko_046.001"/> einer bestimmten Lokalität (Landschaftsroman, Dorfroman, Großstadtroman), <lb n="pko_046.002"/> eines bestimmten Berufs oder Standes (Standesroman: Bauernroman, <lb n="pko_046.003"/> Arbeiterroman, Militärroman, Schulroman etc.), einer weiteren <lb n="pko_046.004"/> oder engeren Sippe (Generationenroman, Familienroman). Das prosaische <lb n="pko_046.005"/> Seitenstück zum metrischen Tierepos bildet der Tierroman, ein <lb n="pko_046.006"/> solches zum komischen (richtiger zum humoristischen) Epos der komische <lb n="pko_046.007"/> Roman (Cervantes: „Don Quixote“, Jean Paul, Raabe).</p> <p><lb n="pko_046.008"/> 2. Die Mittelform der Prosaepik wird <hi rendition="#i">Novélle</hi> (ital. Neuigkeit“) <lb n="pko_046.009"/> genannt. Im Unterschied zum Roman, der ein umfassendes Zeit- oder <lb n="pko_046.010"/> Lebensbild vorführt, bietet sie nur einen einzigen, aber markanten Zeit- <lb n="pko_046.011"/> oder Lebensausschnitt, der in dem äußern oder innern Schicksal der <lb n="pko_046.012"/> dargestellten Personen eine entscheidende Wendung herbeiführt; sie ist <lb n="pko_046.013"/> also viel geschlossener als der allseits offene Roman, in der Konzentration <lb n="pko_046.014"/> auf einen zentralen Konflikt dem Drama näherstehend, und über <lb n="pko_046.015"/> haupt die strengste Form der Prosadichtung<note xml:id="PKO_046_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_046.033"/> Für lässigere Form hat sich der anspruchslose Gattungsname <hi rendition="#g">Erzählung</hi> (im <lb n="pko_046.034"/> engeren Sinne) eingebürgert.</note>. Auch sprachlich unter <lb n="pko_046.016"/> steht und gehorcht sie höheren Anforderungen, denn sie hat den Kontakt <lb n="pko_046.017"/> mit der mündlichen Erzählung, der sie entstammt, noch nicht so ganz <lb n="pko_046.018"/> verloren wie der Roman, ist (wenigstens in der Fiktion) für ein vorhandenes <lb n="pko_046.019"/> oder gedachtes Hörpublikum bestimmt; die Rücksicht auf dieses <lb n="pko_046.020"/> fordert klangliche Wohlgestalt, straffe Komposition, rasches Tempo <lb n="pko_046.021"/> und packende Motive. Gerne werden mehrere Novellen durch eine <lb n="pko_046.022"/> <hi rendition="#i">Rahmenerzählung</hi> zu einer übergreifenden künstlerischen Einheit zusammengeschlossen <lb n="pko_046.023"/> (G. Keller: „Das Sinngedicht“).</p> <p><lb n="pko_046.024"/> Meister und Muster der Gattung sind der Italiener Boccaccio („Decamerone“) <lb n="pko_046.025"/> und der Spanier Cervantes („Moralische Novellen“); im deutschen <lb n="pko_046.026"/> Sprachgebiet haben sie mit besonderem Erfolg gepflegt Goethe, <lb n="pko_046.027"/> Kleist, Tieck, Hoffmann, Stifter, Keller, C. F. Meyer, Storm, Heyse, <lb n="pko_046.028"/> Raabe, F. v. Saar, Marie von Ebner-Eschenbach, Paul Ernst, Binding.</p> <p><lb n="pko_046.029"/> 3) Die Kleinformen der Prosaepik sind das Märchen, die Kurzgeschichte, <lb n="pko_046.030"/> die Anekdote. Beim <hi rendition="#i">Märchen</hi> unterscheidet man in der <lb n="pko_046.031"/> gleichen Weise und mit ebenso fraglichem Recht wie beim Epos eine <lb n="pko_046.032"/> volksmäßige und eine kunstmäßige Form<note xml:id="PKO_046_2a" n="2)" place="foot" next="#PKO_046_2b"><lb n="pko_046.035"/> Statt zwischen Volks- und Kunstmärchen (auch die Grimmschen Märchen sind <lb n="pko_046.036"/> Kunstleistung, Ergebnis hohen und in rastloser Feilarbeit erst allmählich erworbenen <lb n="pko_046.037"/> stilistischen Könnens) unterscheidet man besser zwischen Ur- und <lb n="pko_046.038"/> Neumärchen. Während das Urmärchen durch den Volksmund gegangen, in wirklicher <lb n="pko_046.039"/> Gemeinschaftserzählung „zersagt“ ist, entsteht das Neumärchen aus willkürlicher <lb n="pko_046.040"/> Kombination echter Märchenmotive durch ein schriftstellendes Individuum.</note>; die von den Brüdern </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [46/0050]
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einer bestimmten Lokalität (Landschaftsroman, Dorfroman, Großstadtroman), pko_046.002
eines bestimmten Berufs oder Standes (Standesroman: Bauernroman, pko_046.003
Arbeiterroman, Militärroman, Schulroman etc.), einer weiteren pko_046.004
oder engeren Sippe (Generationenroman, Familienroman). Das prosaische pko_046.005
Seitenstück zum metrischen Tierepos bildet der Tierroman, ein pko_046.006
solches zum komischen (richtiger zum humoristischen) Epos der komische pko_046.007
Roman (Cervantes: „Don Quixote“, Jean Paul, Raabe).
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2. Die Mittelform der Prosaepik wird Novélle (ital. Neuigkeit“) pko_046.009
genannt. Im Unterschied zum Roman, der ein umfassendes Zeit- oder pko_046.010
Lebensbild vorführt, bietet sie nur einen einzigen, aber markanten Zeit- pko_046.011
oder Lebensausschnitt, der in dem äußern oder innern Schicksal der pko_046.012
dargestellten Personen eine entscheidende Wendung herbeiführt; sie ist pko_046.013
also viel geschlossener als der allseits offene Roman, in der Konzentration pko_046.014
auf einen zentralen Konflikt dem Drama näherstehend, und über pko_046.015
haupt die strengste Form der Prosadichtung 1). Auch sprachlich unter pko_046.016
steht und gehorcht sie höheren Anforderungen, denn sie hat den Kontakt pko_046.017
mit der mündlichen Erzählung, der sie entstammt, noch nicht so ganz pko_046.018
verloren wie der Roman, ist (wenigstens in der Fiktion) für ein vorhandenes pko_046.019
oder gedachtes Hörpublikum bestimmt; die Rücksicht auf dieses pko_046.020
fordert klangliche Wohlgestalt, straffe Komposition, rasches Tempo pko_046.021
und packende Motive. Gerne werden mehrere Novellen durch eine pko_046.022
Rahmenerzählung zu einer übergreifenden künstlerischen Einheit zusammengeschlossen pko_046.023
(G. Keller: „Das Sinngedicht“).
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Meister und Muster der Gattung sind der Italiener Boccaccio („Decamerone“) pko_046.025
und der Spanier Cervantes („Moralische Novellen“); im deutschen pko_046.026
Sprachgebiet haben sie mit besonderem Erfolg gepflegt Goethe, pko_046.027
Kleist, Tieck, Hoffmann, Stifter, Keller, C. F. Meyer, Storm, Heyse, pko_046.028
Raabe, F. v. Saar, Marie von Ebner-Eschenbach, Paul Ernst, Binding.
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3) Die Kleinformen der Prosaepik sind das Märchen, die Kurzgeschichte, pko_046.030
die Anekdote. Beim Märchen unterscheidet man in der pko_046.031
gleichen Weise und mit ebenso fraglichem Recht wie beim Epos eine pko_046.032
volksmäßige und eine kunstmäßige Form 2); die von den Brüdern
1) pko_046.033
Für lässigere Form hat sich der anspruchslose Gattungsname Erzählung (im pko_046.034
engeren Sinne) eingebürgert.
2) pko_046.035
Statt zwischen Volks- und Kunstmärchen (auch die Grimmschen Märchen sind pko_046.036
Kunstleistung, Ergebnis hohen und in rastloser Feilarbeit erst allmählich erworbenen pko_046.037
stilistischen Könnens) unterscheidet man besser zwischen Ur- und pko_046.038
Neumärchen. Während das Urmärchen durch den Volksmund gegangen, in wirklicher pko_046.039
Gemeinschaftserzählung „zersagt“ ist, entsteht das Neumärchen aus willkürlicher pko_046.040
Kombination echter Märchenmotive durch ein schriftstellendes Individuum.
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Zitationshilfe: | Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/50>, abgerufen am 16.02.2025. |