Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.pko_034.001 pko_034.011 pko_034.018 pko_034.025 pko_034.029 pko_034.033Im Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her, pko_034.030 Doch irrst du Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und her; pko_034.031 Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund, pko_034.032 Ihr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her (Platen). 1) pko_034.034
Fünfzehn inhaltlich zusammenhängende Sonette verflechten sich dadurch zu pko_034.035 einem Sonettenkranze, daß der Schlußvers des einen Sonetts immer als pko_034.036 Anfangsvers des nächstfolgenden gesetzt und das fünfzehnte (sog. Meistersonett) pko_034.037 aus den Anfangsversen der vierzehn vorangegangenen gebildet wird. In solchem, pko_034.038 schon mehr spielerischem Kunststück hat sich heutigentags der Wiener Josef pko_034.039 Weinheber versucht. pko_034.001 pko_034.011 pko_034.018 pko_034.025 pko_034.029 pko_034.033Im Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her, pko_034.030 Doch irrst du Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und her; pko_034.031 Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund, pko_034.032 Ihr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her (Platen). 1) pko_034.034
Fünfzehn inhaltlich zusammenhängende Sonette verflechten sich dadurch zu pko_034.035 einem Sonettenkranze, daß der Schlußvers des einen Sonetts immer als pko_034.036 Anfangsvers des nächstfolgenden gesetzt und das fünfzehnte (sog. Meistersonett) pko_034.037 aus den Anfangsversen der vierzehn vorangegangenen gebildet wird. In solchem, pko_034.038 schon mehr spielerischem Kunststück hat sich heutigentags der Wiener Josef pko_034.039 Weinheber versucht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0038" n="34"/><lb n="pko_034.001"/> jambischen Fünftaktern, und zwar aus zwei parallel gebauten vierzeiligen <lb n="pko_034.002"/> Strophen (Quartetten) in der Reimbindung abba und aus zwei, <lb n="pko_034.003"/> durch neue Reime (cdc) in sich verschränkten, parallel gebauten Dreizeilern <lb n="pko_034.004"/> (Terzetten)<note xml:id="PKO_034_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_034.034"/> Fünfzehn inhaltlich zusammenhängende Sonette verflechten sich dadurch zu <lb n="pko_034.035"/> einem <hi rendition="#g">Sonettenkranze,</hi> daß der Schlußvers des einen Sonetts immer als <lb n="pko_034.036"/> Anfangsvers des nächstfolgenden gesetzt und das fünfzehnte (sog. Meistersonett) <lb n="pko_034.037"/> aus den Anfangsversen der vierzehn vorangegangenen gebildet wird. In solchem, <lb n="pko_034.038"/> schon mehr spielerischem Kunststück hat sich heutigentags der Wiener Josef <lb n="pko_034.039"/> Weinheber versucht.</note>. Die weltliterarischen Meister dieses strengen <lb n="pko_034.005"/> Strophengebäudes sind Petrarca, Shakespeare und Camões; bei den <lb n="pko_034.006"/> Deutschen Gryphius, Platen, Rilke. Das Sonett eignet sich durch seinen <lb n="pko_034.007"/> logischen Bau (seine beiden, metrisch unterschiedenen Teile gestalten <lb n="pko_034.008"/> den Inhalt in Satz und Gegensatz, Frage und Antwort, Problem und <lb n="pko_034.009"/> Lösung) zum dichterischen Ausdruck von Denkerlebnissen, zu philosophischer <lb n="pko_034.010"/> Lyrik (Wilhelm von Humboldt).</p> <p><lb n="pko_034.011"/> Die <hi rendition="#i">Terzíne</hi> (ital. „Dreizeiler“) besteht aus drei jambischen Fünftaktern, <lb n="pko_034.012"/> deren erster mit dem dritten reimt, während der zweite den <lb n="pko_034.013"/> Reim für die erste und dritte Zeile der nächsten Strophe anschlägt, so <lb n="pko_034.014"/> daß eine ununterbrochene Kette entsteht; das ganze Gedicht abschließend, <lb n="pko_034.015"/> folgt dem letzten Gesätz noch ein Vers, der mit dessen Mittelzeile <lb n="pko_034.016"/> reimt (aba, bcb, cdc ... yzy, z). Die großen Dichter dieser <lb n="pko_034.017"/> Form sind Dante, Chamisso, Liliencron, Hofmannsthal.</p> <p><lb n="pko_034.018"/> Die <hi rendition="#i">Stanze</hi> (von ital. stanza „Zimmer“ = Reimgebäude), auch <hi rendition="#i">Ottave <lb n="pko_034.019"/> rime</hi> (ital. „acht Reime“) genannt, besteht aus 8 jambischen Fünftaktern <lb n="pko_034.020"/> in der Reimbindung abababcc (also 2 Terzinen plus 1 Reimpaar); <lb n="pko_034.021"/> sie ist die Strophe des „romantischen“ Heldengedichts und der <lb n="pko_034.022"/> lyrischen Ansprache (Prolog, Epilog). Die mächtigsten Beherrscher dieser <lb n="pko_034.023"/> schwierigen Strophe waren Ariost, Tasso, Camões, Goethe, Byron, <lb n="pko_034.024"/> Liliencron.</p> <p><lb n="pko_034.025"/> Das <hi rendition="#i">Ghasél</hi> (arab. „Gespinnst“) besteht aus 10–30 unter sich gleichen <lb n="pko_034.026"/> Versen beliebiger Taktart, die mit einem Reimpaar beginnen und denselben <lb n="pko_034.027"/> Reim in den geraden Zeilen festhalten, während die ungeraden <lb n="pko_034.028"/> reimlos bleiben (aa ba ca ... za).</p> <lg> <lb n="pko_034.029"/> <l>Im Wasser wogt die Lilie, die <hi rendition="#u">blanke, hin und her</hi>,</l> <lb n="pko_034.030"/> <l>Doch irrst du Freund, sobald du sagst, sie <hi rendition="#u">schwanke hin und her;</hi></l> <lb n="pko_034.031"/> <l>Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund,</l> <lb n="pko_034.032"/> <l>Ihr Haupt nur wiegt ein lieblicher <hi rendition="#u">Gedanke hin und her</hi></l> </lg> <lb n="pko_034.033"/> <p> <hi rendition="#right">(Platen).</hi> </p> <p/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0038]
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jambischen Fünftaktern, und zwar aus zwei parallel gebauten vierzeiligen pko_034.002
Strophen (Quartetten) in der Reimbindung abba und aus zwei, pko_034.003
durch neue Reime (cdc) in sich verschränkten, parallel gebauten Dreizeilern pko_034.004
(Terzetten) 1). Die weltliterarischen Meister dieses strengen pko_034.005
Strophengebäudes sind Petrarca, Shakespeare und Camões; bei den pko_034.006
Deutschen Gryphius, Platen, Rilke. Das Sonett eignet sich durch seinen pko_034.007
logischen Bau (seine beiden, metrisch unterschiedenen Teile gestalten pko_034.008
den Inhalt in Satz und Gegensatz, Frage und Antwort, Problem und pko_034.009
Lösung) zum dichterischen Ausdruck von Denkerlebnissen, zu philosophischer pko_034.010
Lyrik (Wilhelm von Humboldt).
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Die Terzíne (ital. „Dreizeiler“) besteht aus drei jambischen Fünftaktern, pko_034.012
deren erster mit dem dritten reimt, während der zweite den pko_034.013
Reim für die erste und dritte Zeile der nächsten Strophe anschlägt, so pko_034.014
daß eine ununterbrochene Kette entsteht; das ganze Gedicht abschließend, pko_034.015
folgt dem letzten Gesätz noch ein Vers, der mit dessen Mittelzeile pko_034.016
reimt (aba, bcb, cdc ... yzy, z). Die großen Dichter dieser pko_034.017
Form sind Dante, Chamisso, Liliencron, Hofmannsthal.
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Die Stanze (von ital. stanza „Zimmer“ = Reimgebäude), auch Ottave pko_034.019
rime (ital. „acht Reime“) genannt, besteht aus 8 jambischen Fünftaktern pko_034.020
in der Reimbindung abababcc (also 2 Terzinen plus 1 Reimpaar); pko_034.021
sie ist die Strophe des „romantischen“ Heldengedichts und der pko_034.022
lyrischen Ansprache (Prolog, Epilog). Die mächtigsten Beherrscher dieser pko_034.023
schwierigen Strophe waren Ariost, Tasso, Camões, Goethe, Byron, pko_034.024
Liliencron.
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Das Ghasél (arab. „Gespinnst“) besteht aus 10–30 unter sich gleichen pko_034.026
Versen beliebiger Taktart, die mit einem Reimpaar beginnen und denselben pko_034.027
Reim in den geraden Zeilen festhalten, während die ungeraden pko_034.028
reimlos bleiben (aa ba ca ... za).
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Im Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her, pko_034.030
Doch irrst du Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und her; pko_034.031
Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund, pko_034.032
Ihr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her
pko_034.033
(Platen).
1) pko_034.034
Fünfzehn inhaltlich zusammenhängende Sonette verflechten sich dadurch zu pko_034.035
einem Sonettenkranze, daß der Schlußvers des einen Sonetts immer als pko_034.036
Anfangsvers des nächstfolgenden gesetzt und das fünfzehnte (sog. Meistersonett) pko_034.037
aus den Anfangsversen der vierzehn vorangegangenen gebildet wird. In solchem, pko_034.038
schon mehr spielerischem Kunststück hat sich heutigentags der Wiener Josef pko_034.039
Weinheber versucht.
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Zitationshilfe: | Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/38>, abgerufen am 16.02.2025. |