Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.pko_009.001 pko_009.013 1. das schmückende Beiwort (epitheton ornans); es taucht den bezeichneten pko_009.014 1) pko_009.036
der aber, wenn er bewußt Homer nachahmt, sich auch im typisierenden Beiwort pko_009.037 gefällt: pko_009.038 "Ließ die Ställe zurück und die wohlgezimmerten Scheunen" pko_009.039(Hermann und Dorothea). pko_009.001 pko_009.013 1. das schmückende Beiwort (epitheton ornans); es taucht den bezeichneten pko_009.014 1) pko_009.036
der aber, wenn er bewußt Homer nachahmt, sich auch im typisierenden Beiwort pko_009.037 gefällt: pko_009.038 „Ließ die Ställe zurück und die wohlgezimmerten Scheunen“ pko_009.039(Hermann und Dorothea). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0013" n="9"/><lb n="pko_009.001"/> haben bloß die sinnliche Bedeutung verloren, die sie in früheren Sprachzuständen <lb n="pko_009.002"/> besaßen; alle etymologische Forschung hat keinen andern <lb n="pko_009.003"/> Drang und Zweck, als die ursprüngliche Bildlichkeit der Wörter auszufinden. <lb n="pko_009.004"/> Indem das sprachliche Bild Sinnliches vergeistigt, Geistiges <lb n="pko_009.005"/> versinnlicht, stellt es die Abbreviatur dessen dar, was im Grunde die <lb n="pko_009.006"/> Dichtung leistet. Sprache wie Dichtung denkt in Bildern; ist Dichtersprache <lb n="pko_009.007"/> gesteigerte Sprache, so wird ihr wesentlichstes Kennzeichen <lb n="pko_009.008"/> gesteigerte Bildlichkeit sein; diese vornehmlich löst jene suggestive <lb n="pko_009.009"/> Wirkung aus, durch die der Empfindungszustand des Poeten auf den <lb n="pko_009.010"/> Leser übertragen wird. Die Bildersprache legt um die dargestellten <lb n="pko_009.011"/> Objekte die besondere Atmosphäre von Gefühlen und Stimmungen, in <lb n="pko_009.012"/> der der Dichter seinerseits die Objekte erlebt hat. Solches leistet bereits</p> <div n="5"> <lb n="pko_009.013"/> <head>1. <hi rendition="#i">das schmückende Beiwort (epitheton ornans);</hi></head> <p>es taucht den bezeichneten <lb n="pko_009.014"/> Gegenstand in die eigentümliche Farbe, Gesinnung oder <lb n="pko_009.015"/> Wertung einer bestimmten Weltschau. In altertümlicher Dichtung <lb n="pko_009.016"/> (Homer, altgermanische Poesie, südslawisches Heldenlied) ist es die <lb n="pko_009.017"/> Weltschau einer ganzen Gesellschaft, eben des höfischen Publikums, für <lb n="pko_009.018"/> das der Dichter singt; das Beiwort ist <hi rendition="#i">typisierend:</hi> „die ferntreffenden <lb n="pko_009.019"/> Pfeile“, „das rosseernährende Argos“, „das wohlberuderte Schiff“, „das <lb n="pko_009.020"/> rote Gold“, „der grüne Wald“, „die weiße Hand“. Der Wandel der <lb n="pko_009.021"/> Kunstepochen spiegelt sich vielfach im Wandel der vorgezogenen typischen <lb n="pko_009.022"/> Beiwörter: dem „silbernen“ Mond Klopstocks und seiner Göttinger <lb n="pko_009.023"/> Jünger, auch des jungen Goethe, folgt der „goldene“ der Romantik, der <lb n="pko_009.024"/> „rote“, „gelbe“, „bleiche“ des Impressionismus. Neuere Dichtung <lb n="pko_009.025"/> schreitet vom typisierenden zum <hi rendition="#i">individualisierenden</hi> Beiwort (épithète <lb n="pko_009.026"/> rare) vor, das die einmalige und einzigartige Anschauung eines besonderen <lb n="pko_009.027"/> Temperaments ausdrückt; einen Höhepunkt bezeichnet Goethe<note xml:id="PKO_009_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_009.036"/> der aber, wenn er bewußt Homer nachahmt, sich auch im typisierenden Beiwort <lb n="pko_009.037"/> gefällt: <lb n="pko_009.038"/> <lg><l>„Ließ die Ställe zurück und die wohlgezimmerten Scheunen“</l></lg> <lb n="pko_009.039"/> <hi rendition="#right">(Hermann und Dorothea).</hi></note>: <lb n="pko_009.028"/> „das feuchtverklärte Blau“, „liebwirkende Seele“, „unverwelkliche <lb n="pko_009.029"/> Bäume“, „glühendbittre Pfeile“, „grüngesenkte Wiese“. Die Übersteigerung <lb n="pko_009.030"/> des individualisierenden Beiworts führt zum <hi rendition="#i">unerwarteten</hi> Beiwort, <lb n="pko_009.031"/> das mit scheinbarer Unsinnigkeit lebendigste Anschaulichkeit verbindet; <lb n="pko_009.032"/> in ihm glänzen Jean Paul, Heine, Thomas Mann, Rilke, der Expressionismus <lb n="pko_009.033"/> („Der Wirt trug einen hastig grünen Leibrock“, „ein Meer von <lb n="pko_009.034"/> blauen Gedanken“, „dies atmende Erstaunen“, „die warme Armut“, <lb n="pko_009.035"/> „diese lockeren und verbrüdernden Wochen der festheißen Backen </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0013]
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haben bloß die sinnliche Bedeutung verloren, die sie in früheren Sprachzuständen pko_009.002
besaßen; alle etymologische Forschung hat keinen andern pko_009.003
Drang und Zweck, als die ursprüngliche Bildlichkeit der Wörter auszufinden. pko_009.004
Indem das sprachliche Bild Sinnliches vergeistigt, Geistiges pko_009.005
versinnlicht, stellt es die Abbreviatur dessen dar, was im Grunde die pko_009.006
Dichtung leistet. Sprache wie Dichtung denkt in Bildern; ist Dichtersprache pko_009.007
gesteigerte Sprache, so wird ihr wesentlichstes Kennzeichen pko_009.008
gesteigerte Bildlichkeit sein; diese vornehmlich löst jene suggestive pko_009.009
Wirkung aus, durch die der Empfindungszustand des Poeten auf den pko_009.010
Leser übertragen wird. Die Bildersprache legt um die dargestellten pko_009.011
Objekte die besondere Atmosphäre von Gefühlen und Stimmungen, in pko_009.012
der der Dichter seinerseits die Objekte erlebt hat. Solches leistet bereits
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1. das schmückende Beiwort (epitheton ornans);es taucht den bezeichneten pko_009.014
Gegenstand in die eigentümliche Farbe, Gesinnung oder pko_009.015
Wertung einer bestimmten Weltschau. In altertümlicher Dichtung pko_009.016
(Homer, altgermanische Poesie, südslawisches Heldenlied) ist es die pko_009.017
Weltschau einer ganzen Gesellschaft, eben des höfischen Publikums, für pko_009.018
das der Dichter singt; das Beiwort ist typisierend: „die ferntreffenden pko_009.019
Pfeile“, „das rosseernährende Argos“, „das wohlberuderte Schiff“, „das pko_009.020
rote Gold“, „der grüne Wald“, „die weiße Hand“. Der Wandel der pko_009.021
Kunstepochen spiegelt sich vielfach im Wandel der vorgezogenen typischen pko_009.022
Beiwörter: dem „silbernen“ Mond Klopstocks und seiner Göttinger pko_009.023
Jünger, auch des jungen Goethe, folgt der „goldene“ der Romantik, der pko_009.024
„rote“, „gelbe“, „bleiche“ des Impressionismus. Neuere Dichtung pko_009.025
schreitet vom typisierenden zum individualisierenden Beiwort (épithète pko_009.026
rare) vor, das die einmalige und einzigartige Anschauung eines besonderen pko_009.027
Temperaments ausdrückt; einen Höhepunkt bezeichnet Goethe 1): pko_009.028
„das feuchtverklärte Blau“, „liebwirkende Seele“, „unverwelkliche pko_009.029
Bäume“, „glühendbittre Pfeile“, „grüngesenkte Wiese“. Die Übersteigerung pko_009.030
des individualisierenden Beiworts führt zum unerwarteten Beiwort, pko_009.031
das mit scheinbarer Unsinnigkeit lebendigste Anschaulichkeit verbindet; pko_009.032
in ihm glänzen Jean Paul, Heine, Thomas Mann, Rilke, der Expressionismus pko_009.033
(„Der Wirt trug einen hastig grünen Leibrock“, „ein Meer von pko_009.034
blauen Gedanken“, „dies atmende Erstaunen“, „die warme Armut“, pko_009.035
„diese lockeren und verbrüdernden Wochen der festheißen Backen
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der aber, wenn er bewußt Homer nachahmt, sich auch im typisierenden Beiwort pko_009.037
gefällt: pko_009.038
„Ließ die Ställe zurück und die wohlgezimmerten Scheunen“
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(Hermann und Dorothea).
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Zitationshilfe: | Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/13>, abgerufen am 16.02.2025. |