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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784.

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bietigen Entfernung gehalten, hatte ihm auch
nicht die geringste Freiheit gestattet, aber nun
ward sie durch Bitten und Drohungen einer fühl-
losen Mutter in die Enge getrieben, und ihre
Tugend fing an zu wanken. So wie der Feind,
der schon ein Aussenwerk der belagerten Stadt er-
stiegen hat, immer mutigere und stärkere Angriffe
wagt -- die Belagerten hingegen immer mutlo-
ser werden, wenn des Feindes Fahne auf den
Wällen flattert, so ist es auch mit der Unschuld
eines Mädchens. Hat sie erst dem Verführer
Eine Freiheit, sei sie auch noch so geringe, ver-
stattet, hat sie ihm Eine schwache Seite ihres
Herzens entdekket, wehe dann ihrer Unschuld --
sie ist unwiederbringlich verloren.

Der Bösewicht suchte sie unter dem Verspre-
chen der ehelichen Verbindung zu gewinnen, er
vermaß, betheuerte sich, und schwur fürchterliche
Eide, schwur, sie sogleich als Gattin öffentlich
zu bekennen, wenn sein harter Vater dahin wäre.
Das war die Lokspeise, die den Vogel sicher ma-
chen und in das aufgestellte Garn lokken sollte --
O, wehe euch! die ihr die Vorzüge eurer Geburt
durch Handlungen verdunkelt, die euch zu
der niedrigsten Klasse feiger Buben herabwürdi-

bietigen Entfernung gehalten, hatte ihm auch
nicht die geringſte Freiheit geſtattet, aber nun
ward ſie durch Bitten und Drohungen einer fuͤhl-
loſen Mutter in die Enge getrieben, und ihre
Tugend fing an zu wanken. So wie der Feind,
der ſchon ein Auſſenwerk der belagerten Stadt er-
ſtiegen hat, immer mutigere und ſtaͤrkere Angriffe
wagt — die Belagerten hingegen immer mutlo-
ſer werden, wenn des Feindes Fahne auf den
Waͤllen flattert, ſo iſt es auch mit der Unſchuld
eines Maͤdchens. Hat ſie erſt dem Verfuͤhrer
Eine Freiheit, ſei ſie auch noch ſo geringe, ver-
ſtattet, hat ſie ihm Eine ſchwache Seite ihres
Herzens entdekket, wehe dann ihrer Unſchuld —
ſie iſt unwiederbringlich verloren.

Der Boͤſewicht ſuchte ſie unter dem Verſpre-
chen der ehelichen Verbindung zu gewinnen, er
vermaß, betheuerte ſich, und ſchwur fuͤrchterliche
Eide, ſchwur, ſie ſogleich als Gattin oͤffentlich
zu bekennen, wenn ſein harter Vater dahin waͤre.
Das war die Lokſpeiſe, die den Vogel ſicher ma-
chen und in das aufgeſtellte Garn lokken ſollte —
O, wehe euch! die ihr die Vorzuͤge eurer Geburt
durch Handlungen verdunkelt, die euch zu
der niedrigſten Klaſſe feiger Buben herabwuͤrdi-

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[60/0068] bietigen Entfernung gehalten, hatte ihm auch nicht die geringſte Freiheit geſtattet, aber nun ward ſie durch Bitten und Drohungen einer fuͤhl- loſen Mutter in die Enge getrieben, und ihre Tugend fing an zu wanken. So wie der Feind, der ſchon ein Auſſenwerk der belagerten Stadt er- ſtiegen hat, immer mutigere und ſtaͤrkere Angriffe wagt — die Belagerten hingegen immer mutlo- ſer werden, wenn des Feindes Fahne auf den Waͤllen flattert, ſo iſt es auch mit der Unſchuld eines Maͤdchens. Hat ſie erſt dem Verfuͤhrer Eine Freiheit, ſei ſie auch noch ſo geringe, ver- ſtattet, hat ſie ihm Eine ſchwache Seite ihres Herzens entdekket, wehe dann ihrer Unſchuld — ſie iſt unwiederbringlich verloren. Der Boͤſewicht ſuchte ſie unter dem Verſpre- chen der ehelichen Verbindung zu gewinnen, er vermaß, betheuerte ſich, und ſchwur fuͤrchterliche Eide, ſchwur, ſie ſogleich als Gattin oͤffentlich zu bekennen, wenn ſein harter Vater dahin waͤre. Das war die Lokſpeiſe, die den Vogel ſicher ma- chen und in das aufgeſtellte Garn lokken ſollte — O, wehe euch! die ihr die Vorzuͤge eurer Geburt durch Handlungen verdunkelt, die euch zu der niedrigſten Klaſſe feiger Buben herabwuͤrdi-

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Zitationshilfe: Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/68>, abgerufen am 30.04.2024.