Emilie, das schuldlose Mädchen, das jezt zum erstenmal Liebe, grenzenlose Liebe fühlte, kämpfte lange mit der größten Spannung ihres Geistes, mit den süssen Empfindungen welche die Natur in ihre Brust schuf. Sie sah es ein, es würde eine nie versiegende Quelle des Elends für sie werden, den zu lieben, dem ihre Brust entge- gen klopfte. Bebend zwischen Liebe und Schmerz, faßte sie den Entschluß, den nur ein Herz fassen konnte, das so edel dachte, den Entschluß, zu fliehen, alles zu verlassen -- Aeltern, Ge- spielen, Vaterland, und den so heiß Gelieb- ten, um fern von der Welt und ihren Freuden ihr Leben wegzujammern -- sich dem aufzu- opfern, den sie mit solcher Wärme liebte; aber die Tränen ihres Woldau, seine jammernde Stimme, daß sein Leben ohne sie Tod sein wür- de, machte diesen Eutschluß wankend.
Woldau war ein Mann, zwar erzogen in der grossen Welt, aber ohne sich mit dem Strom der Zügellosigkeit fortreissen zu lassen; er hatte seinen Verstand mit Kenntnissen bereichert, sei- nen Karakter durch die Bemühungen eines Freun- des, noch mehr ausgebildet und verfeinert; plöz- lich entriß ihm das Schiksal diesen Freund und
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Emilie, das ſchuldloſe Maͤdchen, das jezt zum erſtenmal Liebe, grenzenloſe Liebe fuͤhlte, kaͤmpfte lange mit der groͤßten Spannung ihres Geiſtes, mit den ſuͤſſen Empfindungen welche die Natur in ihre Bruſt ſchuf. Sie ſah es ein, es wuͤrde eine nie verſiegende Quelle des Elends fuͤr ſie werden, den zu lieben, dem ihre Bruſt entge- gen klopfte. Bebend zwiſchen Liebe und Schmerz, faßte ſie den Entſchluß, den nur ein Herz faſſen konnte, das ſo edel dachte, den Entſchluß, zu fliehen, alles zu verlaſſen — Aeltern, Ge- ſpielen, Vaterland, und den ſo heiß Gelieb- ten, um fern von der Welt und ihren Freuden ihr Leben wegzujammern — ſich dem aufzu- opfern, den ſie mit ſolcher Waͤrme liebte; aber die Traͤnen ihres Woldau, ſeine jammernde Stimme, daß ſein Leben ohne ſie Tod ſein wuͤr- de, machte dieſen Eutſchluß wankend.
Woldau war ein Mann, zwar erzogen in der groſſen Welt, aber ohne ſich mit dem Strom der Zuͤgelloſigkeit fortreiſſen zu laſſen; er hatte ſeinen Verſtand mit Kenntniſſen bereichert, ſei- nen Karakter durch die Bemuͤhungen eines Freun- des, noch mehr ausgebildet und verfeinert; ploͤz- lich entriß ihm das Schikſal dieſen Freund und
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Emilie, das ſchuldloſe Maͤdchen, das jezt
zum erſtenmal Liebe, grenzenloſe Liebe fuͤhlte,
kaͤmpfte lange mit der groͤßten Spannung ihres
Geiſtes, mit den ſuͤſſen Empfindungen welche die
Natur in ihre Bruſt ſchuf. Sie ſah es ein, es
wuͤrde eine nie verſiegende Quelle des Elends fuͤr
ſie werden, den zu lieben, dem ihre Bruſt entge-
gen klopfte. Bebend zwiſchen Liebe und Schmerz,
faßte ſie den Entſchluß, den nur ein Herz faſſen
konnte, das ſo edel dachte, den Entſchluß, zu
fliehen, alles zu verlaſſen — Aeltern, Ge-
ſpielen, Vaterland, und den ſo heiß Gelieb-
ten, um fern von der Welt und ihren Freuden
ihr Leben wegzujammern — ſich dem aufzu-
opfern, den ſie mit ſolcher Waͤrme liebte; aber
die Traͤnen ihres Woldau, ſeine jammernde
Stimme, daß ſein Leben ohne ſie Tod ſein wuͤr-
de, machte dieſen Eutſchluß wankend.
Woldau war ein Mann, zwar erzogen in
der groſſen Welt, aber ohne ſich mit dem Strom
der Zuͤgelloſigkeit fortreiſſen zu laſſen; er hatte
ſeinen Verſtand mit Kenntniſſen bereichert, ſei-
nen Karakter durch die Bemuͤhungen eines Freun-
des, noch mehr ausgebildet und verfeinert; ploͤz-
lich entriß ihm das Schikſal dieſen Freund und
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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/127>, abgerufen am 16.02.2025.
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