[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769.Zwölfter Gesang. Wie viel anders, wie sehr viel anders ist es mit uns nun, Da er ... Mutter, stirb du nicht auch, damit wir nicht vollends Gar vergehn! ... Nun empfind' ich es erst, nun lern' ich es weinen, Was der Bethlehemit einst über Jerusalem weinte, Ueber der einsamen Witwe, die Fürstinn unter den Heiden, Und der Länder Königinn war! Wir waren geringe, Lebten dürftig im Staub', und dennoch waren wir glücklich! Denn er war ein göttlicher Mann, der todt ist! ... Allein jetzt Ach was sind wir geworden! gestürzt in welches Elend! Und was werden wir seyn! Und welche Nächte voll Jammers Werden wir weinen! O möchten der Jammernächte nicht viel seyn! Und die letzte des ewigen Schlafs bald kommen, des Schlummers Jn dem besseren Lager, als unser Lager voll Thränen. Unsere Feinde schweben empor, und spotten der Armen, Die den göttlichen Mann verehrten in ihrer Einfalt. Auch sein spotteten sie, und gaben, als er im Durste Rufte, nicht Galle nur ihm, sie gaben die untersten Hefen Jhres Hohnes ihm auch in seinen Qualen! ... O Richter! Geuß auch ihnen, Vergelter! der Rache Taumelkelch voll! Laß sie bis zu den Hefen hinab ihn trinken, und sterben! Und sie schwieg. Zu ihr sprach Jesus Mutter, und weinte, Daß sie vor innigem Schmerz die gebrochnen Worte kaum aussprach: Ueberlaß du es ganz dem Richter, o Magdale! ... Rief denn Nicht in seinem Blute mein Sohn von dem Kreuz herunter: Vater, sie wissen es nicht, was sie thun; erbarme dich ihrer! Und Bewundrung ergriff und unaussprechliche Wehmuth Aller Herzen, ein Kampf der erhabensten Freud' und der trübsten Bittersten
Zwoͤlfter Geſang. Wie viel anders, wie ſehr viel anders iſt es mit uns nun, Da er … Mutter, ſtirb du nicht auch, damit wir nicht vollends Gar vergehn! … Nun empfind’ ich es erſt, nun lern’ ich es weinen, Was der Bethlehemit einſt uͤber Jeruſalem weinte, Ueber der einſamen Witwe, die Fuͤrſtinn unter den Heiden, Und der Laͤnder Koͤniginn war! Wir waren geringe, Lebten duͤrftig im Staub’, und dennoch waren wir gluͤcklich! Denn er war ein goͤttlicher Mann, der todt iſt! … Allein jetzt Ach was ſind wir geworden! geſtuͤrzt in welches Elend! Und was werden wir ſeyn! Und welche Naͤchte voll Jammers Werden wir weinen! O moͤchten der Jammernaͤchte nicht viel ſeyn! Und die letzte des ewigen Schlafs bald kommen, des Schlummers Jn dem beſſeren Lager, als unſer Lager voll Thraͤnen. Unſere Feinde ſchweben empor, und ſpotten der Armen, Die den goͤttlichen Mann verehrten in ihrer Einfalt. Auch ſein ſpotteten ſie, und gaben, als er im Durſte Rufte, nicht Galle nur ihm, ſie gaben die unterſten Hefen Jhres Hohnes ihm auch in ſeinen Qualen! … O Richter! Geuß auch ihnen, Vergelter! der Rache Taumelkelch voll! Laß ſie bis zu den Hefen hinab ihn trinken, und ſterben! Und ſie ſchwieg. Zu ihr ſprach Jeſus Mutter, und weinte, Daß ſie vor innigem Schmerz die gebrochnen Worte kaum ausſprach: Ueberlaß du es ganz dem Richter, o Magdale! … Rief denn Nicht in ſeinem Blute mein Sohn von dem Kreuz herunter: Vater, ſie wiſſen es nicht, was ſie thun; erbarme dich ihrer! Und Bewundrung ergriff und unausſprechliche Wehmuth Aller Herzen, ein Kampf der erhabenſten Freud’ und der truͤbſten Bitterſten
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Zwoͤlfter Geſang.
Wie viel anders, wie ſehr viel anders iſt es mit uns nun,
Da er … Mutter, ſtirb du nicht auch, damit wir nicht vollends
Gar vergehn! … Nun empfind’ ich es erſt, nun lern’ ich es weinen,
Was der Bethlehemit einſt uͤber Jeruſalem weinte,
Ueber der einſamen Witwe, die Fuͤrſtinn unter den Heiden,
Und der Laͤnder Koͤniginn war! Wir waren geringe,
Lebten duͤrftig im Staub’, und dennoch waren wir gluͤcklich!
Denn er war ein goͤttlicher Mann, der todt iſt! … Allein jetzt
Ach was ſind wir geworden! geſtuͤrzt in welches Elend!
Und was werden wir ſeyn! Und welche Naͤchte voll Jammers
Werden wir weinen! O moͤchten der Jammernaͤchte nicht viel ſeyn!
Und die letzte des ewigen Schlafs bald kommen, des Schlummers
Jn dem beſſeren Lager, als unſer Lager voll Thraͤnen.
Unſere Feinde ſchweben empor, und ſpotten der Armen,
Die den goͤttlichen Mann verehrten in ihrer Einfalt.
Auch ſein ſpotteten ſie, und gaben, als er im Durſte
Rufte, nicht Galle nur ihm, ſie gaben die unterſten Hefen
Jhres Hohnes ihm auch in ſeinen Qualen! … O Richter!
Geuß auch ihnen, Vergelter! der Rache Taumelkelch voll!
Laß ſie bis zu den Hefen hinab ihn trinken, und ſterben!
Und ſie ſchwieg. Zu ihr ſprach Jeſus Mutter, und weinte,
Daß ſie vor innigem Schmerz die gebrochnen Worte kaum ausſprach:
Ueberlaß du es ganz dem Richter, o Magdale! … Rief denn
Nicht in ſeinem Blute mein Sohn von dem Kreuz herunter:
Vater, ſie wiſſen es nicht, was ſie thun; erbarme dich ihrer!
Und Bewundrung ergriff und unausſprechliche Wehmuth
Aller Herzen, ein Kampf der erhabenſten Freud’ und der truͤbſten
Bitterſten
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Zitationshilfe: | [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias03_1769/93>, abgerufen am 16.02.2025. |