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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769.

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Elfter Gesang.
Und der Bruderlose wie werd' ich schmachten, und dürsten
Nach des Todes Kelche, der andern bitter, mir süß ist!

Seraph, des Knabens Schmerz geht mir durch die Seele! Trockn' ihm
Seine Thränen, ach trockne die unaushaltbaren Thränen!
Gott, Gott nimmt sie von ihm, ist seine Stunde gekommen.
Weißt du nicht, daß wir im Himmel zu früh die Thräne nicht trocknen?
Schlummere sanft, du Jnniggeliebter! Doch Lazarus kam ja
Aus der Verwesung. Allein da lebte der Göttliche selbst noch!
Aber nun hat Er Vollendung am Kreuze gerufen.
Wird er lange noch leben, o du sein Engel? ... Das weis nur
Der, wenn er sterben soll, mir gebeut, ihn gen Himmel zu führen.
Lehre mich den Betrübten, den Bruderlosen, o Vater
Aller Väter, die Weisheit, die uns durch die Wüste des Lebens
Jn das Land der Verheißungen leitet. Du siehst ja, du Vater
Aller Väter und Kinder, die innige bittre Betrübniß
Meines schmachtenden Herzen. Jch fühle die wachsenden Kräfte
Meiner Jugend, und sehe vor mir ein Leben ohn' Ende,
Ohne Benoni, bald ohne Vater, und ach! ohn' Ende!
Seraph, der innige Schmerz wird der sein Leben nicht kürzen?
Tage deuchten ihm Jahre; nur Tage wird er noch leben.
Seele meines vollendeten Bruders, ach wenn du hier wärst
Um dein Grab, und deinen verlassenen Joel noch kenntest;
O so würdest du auch ein kurzes Leben mir wünschen.
Weniger nicht gehöret dazu, o Seraph, des Knabens
Kümmernisse zu sehen, und ruhig sie auszuhalten,
Als der Besitz des ewigen Lebens! Du warst, o sein Engel,
Stets ein Unsterblicher, ließest in jenen Hütten des Elends
Keinen
D 4

Elfter Geſang.
Und der Bruderloſe wie werd’ ich ſchmachten, und duͤrſten
Nach des Todes Kelche, der andern bitter, mir ſuͤß iſt!

Seraph, des Knabens Schmerz geht mir durch die Seele! Trockn’ ihm
Seine Thraͤnen, ach trockne die unaushaltbaren Thraͤnen!
Gott, Gott nimmt ſie von ihm, iſt ſeine Stunde gekommen.
Weißt du nicht, daß wir im Himmel zu fruͤh die Thraͤne nicht trocknen?
Schlummere ſanft, du Jnniggeliebter! Doch Lazarus kam ja
Aus der Verweſung. Allein da lebte der Goͤttliche ſelbſt noch!
Aber nun hat Er Vollendung am Kreuze gerufen.
Wird er lange noch leben, o du ſein Engel? … Das weis nur
Der, wenn er ſterben ſoll, mir gebeut, ihn gen Himmel zu fuͤhren.
Lehre mich den Betruͤbten, den Bruderloſen, o Vater
Aller Vaͤter, die Weisheit, die uns durch die Wuͤſte des Lebens
Jn das Land der Verheißungen leitet. Du ſiehſt ja, du Vater
Aller Vaͤter und Kinder, die innige bittre Betruͤbniß
Meines ſchmachtenden Herzen. Jch fuͤhle die wachſenden Kraͤfte
Meiner Jugend, und ſehe vor mir ein Leben ohn’ Ende,
Ohne Benoni, bald ohne Vater, und ach! ohn’ Ende!
Seraph, der innige Schmerz wird der ſein Leben nicht kuͤrzen?
Tage deuchten ihm Jahre; nur Tage wird er noch leben.
Seele meines vollendeten Bruders, ach wenn du hier waͤrſt
Um dein Grab, und deinen verlaſſenen Joel noch kennteſt;
O ſo wuͤrdeſt du auch ein kurzes Leben mir wuͤnſchen.
Weniger nicht gehoͤret dazu, o Seraph, des Knabens
Kuͤmmerniſſe zu ſehen, und ruhig ſie auszuhalten,
Als der Beſitz des ewigen Lebens! Du warſt, o ſein Engel,
Stets ein Unſterblicher, ließeſt in jenen Huͤtten des Elends
Keinen
D 4
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[55/0071] Elfter Geſang. Und der Bruderloſe wie werd’ ich ſchmachten, und duͤrſten Nach des Todes Kelche, der andern bitter, mir ſuͤß iſt! Seraph, des Knabens Schmerz geht mir durch die Seele! Trockn’ ihm Seine Thraͤnen, ach trockne die unaushaltbaren Thraͤnen! Gott, Gott nimmt ſie von ihm, iſt ſeine Stunde gekommen. Weißt du nicht, daß wir im Himmel zu fruͤh die Thraͤne nicht trocknen? Schlummere ſanft, du Jnniggeliebter! Doch Lazarus kam ja Aus der Verweſung. Allein da lebte der Goͤttliche ſelbſt noch! Aber nun hat Er Vollendung am Kreuze gerufen. Wird er lange noch leben, o du ſein Engel? … Das weis nur Der, wenn er ſterben ſoll, mir gebeut, ihn gen Himmel zu fuͤhren. Lehre mich den Betruͤbten, den Bruderloſen, o Vater Aller Vaͤter, die Weisheit, die uns durch die Wuͤſte des Lebens Jn das Land der Verheißungen leitet. Du ſiehſt ja, du Vater Aller Vaͤter und Kinder, die innige bittre Betruͤbniß Meines ſchmachtenden Herzen. Jch fuͤhle die wachſenden Kraͤfte Meiner Jugend, und ſehe vor mir ein Leben ohn’ Ende, Ohne Benoni, bald ohne Vater, und ach! ohn’ Ende! Seraph, der innige Schmerz wird der ſein Leben nicht kuͤrzen? Tage deuchten ihm Jahre; nur Tage wird er noch leben. Seele meines vollendeten Bruders, ach wenn du hier waͤrſt Um dein Grab, und deinen verlaſſenen Joel noch kennteſt; O ſo wuͤrdeſt du auch ein kurzes Leben mir wuͤnſchen. Weniger nicht gehoͤret dazu, o Seraph, des Knabens Kuͤmmerniſſe zu ſehen, und ruhig ſie auszuhalten, Als der Beſitz des ewigen Lebens! Du warſt, o ſein Engel, Stets ein Unſterblicher, ließeſt in jenen Huͤtten des Elends Keinen D 4

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias03_1769/71>, abgerufen am 22.11.2024.