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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769.

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Vierzehnter Gesang.
Kleophas sprach: Jch bewein' es mit dir! Doch können wir jemals,
Daß er uns erscheine, verdienen? Jst er erstanden;
Und erscheint er: ach, so erscheint er allein aus Erbarmung,
Weil ihn unseres Elends jammert, und weil er zählet
Unsere Thränen, wie er auf unserem Haupte die Haare
Alle gezählt hat! ... O Kleophas! und du zweifelst? ... Du zweifelst
Also nicht, Matthias? ... Du weist, daß ich immer Alles,
Was ich dacht' und empfand, dir ganz, o Kleophas, sagte.
Wenn ich mit stiller Betrachtung es überdenke; so glaub ich!
Aber wenn mich die Angst der Hoffnung, und Furcht, und Erwartung,
Wenn die Freud' ihn wiederzusehn, das ist Freude der Himmel!
Ungestüm mich ergreifen, und meine Seele durchbeben,
Wenn sie in mir der Wahrheit Stimme betäuben; so zweifl' ich!
Kleophas blickt' ihn zärtlicher an, und sagte: Du Lieber!
Aber wenn wir wirklich ihn sähn, dann würde der Himmel
Freude, Freude der Erde nicht! des ewigen Lebens
Wonne würde, kaum sind ich Worte! wenn wir ihn sähen,
O das würd uns noch mehr, noch mächtiger überzeugen,
Als der stillen Betrachtung Licht, das die Seele mit Wahrheit
Ueberströmt! ... Matthias erwiederte: Möcht er erscheinen!
Unsere blutende Seele durch seine Gegenwart heilen!
Kleophas sprach: Wir wünschten zu viel, du Geliebter! Der Freuden
Unaussprechlichste, höchste, wer kann sie, wünscht er sie, hoffen?
Freude, wie die, ist nicht für dieses Leben, Geliebter!
Und sie waren durch eines herüberhangenden Hügels
Schatten gegangen. Des Weges gewandte Krümmungen zeigten
Seitwärts jetzo den schattenden Hang. Dort sahen sie langsam
Einen
L 2
Vierzehnter Geſang.
Kleophas ſprach: Jch bewein’ es mit dir! Doch koͤnnen wir jemals,
Daß er uns erſcheine, verdienen? Jſt er erſtanden;
Und erſcheint er: ach, ſo erſcheint er allein aus Erbarmung,
Weil ihn unſeres Elends jammert, und weil er zaͤhlet
Unſere Thraͤnen, wie er auf unſerem Haupte die Haare
Alle gezaͤhlt hat! … O Kleophas! und du zweifelſt? … Du zweifelſt
Alſo nicht, Matthias? … Du weiſt, daß ich immer Alles,
Was ich dacht’ und empfand, dir ganz, o Kleophas, ſagte.
Wenn ich mit ſtiller Betrachtung es uͤberdenke; ſo glaub ich!
Aber wenn mich die Angſt der Hoffnung, und Furcht, und Erwartung,
Wenn die Freud’ ihn wiederzuſehn, das iſt Freude der Himmel!
Ungeſtuͤm mich ergreifen, und meine Seele durchbeben,
Wenn ſie in mir der Wahrheit Stimme betaͤuben; ſo zweifl’ ich!
Kleophas blickt’ ihn zaͤrtlicher an, und ſagte: Du Lieber!
Aber wenn wir wirklich ihn ſaͤhn, dann wuͤrde der Himmel
Freude, Freude der Erde nicht! des ewigen Lebens
Wonne wuͤrde, kaum ſind ich Worte! wenn wir ihn ſaͤhen,
O das wuͤrd uns noch mehr, noch maͤchtiger uͤberzeugen,
Als der ſtillen Betrachtung Licht, das die Seele mit Wahrheit
Ueberſtroͤmt! … Matthias erwiederte: Moͤcht er erſcheinen!
Unſere blutende Seele durch ſeine Gegenwart heilen!
Kleophas ſprach: Wir wuͤnſchten zu viel, du Geliebter! Der Freuden
Unausſprechlichſte, hoͤchſte, wer kann ſie, wuͤnſcht er ſie, hoffen?
Freude, wie die, iſt nicht fuͤr dieſes Leben, Geliebter!
Und ſie waren durch eines heruͤberhangenden Huͤgels
Schatten gegangen. Des Weges gewandte Kruͤmmungen zeigten
Seitwaͤrts jetzo den ſchattenden Hang. Dort ſahen ſie langſam
Einen
L 2
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[163/0179] Vierzehnter Geſang. Kleophas ſprach: Jch bewein’ es mit dir! Doch koͤnnen wir jemals, Daß er uns erſcheine, verdienen? Jſt er erſtanden; Und erſcheint er: ach, ſo erſcheint er allein aus Erbarmung, Weil ihn unſeres Elends jammert, und weil er zaͤhlet Unſere Thraͤnen, wie er auf unſerem Haupte die Haare Alle gezaͤhlt hat! … O Kleophas! und du zweifelſt? … Du zweifelſt Alſo nicht, Matthias? … Du weiſt, daß ich immer Alles, Was ich dacht’ und empfand, dir ganz, o Kleophas, ſagte. Wenn ich mit ſtiller Betrachtung es uͤberdenke; ſo glaub ich! Aber wenn mich die Angſt der Hoffnung, und Furcht, und Erwartung, Wenn die Freud’ ihn wiederzuſehn, das iſt Freude der Himmel! Ungeſtuͤm mich ergreifen, und meine Seele durchbeben, Wenn ſie in mir der Wahrheit Stimme betaͤuben; ſo zweifl’ ich! Kleophas blickt’ ihn zaͤrtlicher an, und ſagte: Du Lieber! Aber wenn wir wirklich ihn ſaͤhn, dann wuͤrde der Himmel Freude, Freude der Erde nicht! des ewigen Lebens Wonne wuͤrde, kaum ſind ich Worte! wenn wir ihn ſaͤhen, O das wuͤrd uns noch mehr, noch maͤchtiger uͤberzeugen, Als der ſtillen Betrachtung Licht, das die Seele mit Wahrheit Ueberſtroͤmt! … Matthias erwiederte: Moͤcht er erſcheinen! Unſere blutende Seele durch ſeine Gegenwart heilen! Kleophas ſprach: Wir wuͤnſchten zu viel, du Geliebter! Der Freuden Unausſprechlichſte, hoͤchſte, wer kann ſie, wuͤnſcht er ſie, hoffen? Freude, wie die, iſt nicht fuͤr dieſes Leben, Geliebter! Und ſie waren durch eines heruͤberhangenden Huͤgels Schatten gegangen. Des Weges gewandte Kruͤmmungen zeigten Seitwaͤrts jetzo den ſchattenden Hang. Dort ſahen ſie langſam Einen L 2

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 3. Halle, 1769, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias03_1769/179>, abgerufen am 24.04.2024.