Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

fast unbewußt begegneten, -- sie wollte sich losringen, er ließ sie nicht, immer von Neuem preßte er sie wilder an sich, bis er laut weinend sich auf ihre Schulter lehnte. Ich kann dich nicht lassen, Ida, rief er, ich bin unglückselig; denn ich liebe dich, nur dich, und wußte es nicht.

Sie fand keine Sprache, still ließ sie ihn ausweinen, dann richtete sie ihn empor, sah ihm mit dem liebevollsten Blick ins Auge und reichte ihm die Hand.

Die Abreise ward um ein paar Tage hinausgeschoben; denn noch mehr Stoff, als einst die Musik, gab ihnen nun das gelöste Herzensräthsel, das sie so unermüdlich besprachen, wie Kinder die überreichen Gaben der Weihnachtsbescherung. Auf eine kurze Zeit ward die Kunst, ja die ganze Welt vergessen, bis endlich die verständige Malerin erinnerte, daß die Reise und häusliche Einrichtung eines Ehepaars mehr besonnene Vorbereitung bedürfe, als die eines Junggesellen. Doch ein Glück war's, daß die Freundin diese Sorge auf sich nahm; denn sonst wären die Beiden, die in ihrer neuen Aufwallung zu keinem prosaischen Alltagsthun mehr im Stande waren, noch heute nicht unter Einem Dache.

Zehn Jahre waren verflossen, seit Ida von Waldheim geflohen war. Des Grafen Selvar Schwester war schon vor langer Zeit gestorben, er selbst, wenn nicht in seinen Neigungen, doch sehr in seiner äußeren Er-

fast unbewußt begegneten, — sie wollte sich losringen, er ließ sie nicht, immer von Neuem preßte er sie wilder an sich, bis er laut weinend sich auf ihre Schulter lehnte. Ich kann dich nicht lassen, Ida, rief er, ich bin unglückselig; denn ich liebe dich, nur dich, und wußte es nicht.

Sie fand keine Sprache, still ließ sie ihn ausweinen, dann richtete sie ihn empor, sah ihm mit dem liebevollsten Blick ins Auge und reichte ihm die Hand.

Die Abreise ward um ein paar Tage hinausgeschoben; denn noch mehr Stoff, als einst die Musik, gab ihnen nun das gelöste Herzensräthsel, das sie so unermüdlich besprachen, wie Kinder die überreichen Gaben der Weihnachtsbescherung. Auf eine kurze Zeit ward die Kunst, ja die ganze Welt vergessen, bis endlich die verständige Malerin erinnerte, daß die Reise und häusliche Einrichtung eines Ehepaars mehr besonnene Vorbereitung bedürfe, als die eines Junggesellen. Doch ein Glück war's, daß die Freundin diese Sorge auf sich nahm; denn sonst wären die Beiden, die in ihrer neuen Aufwallung zu keinem prosaischen Alltagsthun mehr im Stande waren, noch heute nicht unter Einem Dache.

Zehn Jahre waren verflossen, seit Ida von Waldheim geflohen war. Des Grafen Selvar Schwester war schon vor langer Zeit gestorben, er selbst, wenn nicht in seinen Neigungen, doch sehr in seiner äußeren Er-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0068"/>
fast unbewußt begegneten, &#x2014; sie wollte sich losringen, er ließ sie nicht, immer von Neuem      preßte er sie wilder an sich, bis er laut weinend sich auf ihre Schulter lehnte. Ich kann dich      nicht lassen, Ida, rief er, ich bin unglückselig; denn ich liebe dich, nur dich, und wußte es      nicht.</p><lb/>
        <p>Sie fand keine Sprache, still ließ sie ihn ausweinen, dann richtete sie ihn empor, sah ihm      mit dem liebevollsten Blick ins Auge und reichte ihm die Hand.</p><lb/>
        <p>Die Abreise ward um ein paar Tage hinausgeschoben; denn noch mehr Stoff, als einst die Musik,      gab ihnen nun das gelöste Herzensräthsel, das sie so unermüdlich besprachen, wie Kinder die      überreichen Gaben der Weihnachtsbescherung. Auf eine kurze Zeit ward die Kunst, ja die ganze      Welt vergessen, bis endlich die verständige Malerin erinnerte, daß die Reise und häusliche      Einrichtung eines Ehepaars mehr besonnene Vorbereitung bedürfe, als die eines Junggesellen.      Doch ein Glück war's, daß die Freundin diese Sorge auf sich nahm; denn sonst wären die Beiden,      die in ihrer neuen Aufwallung zu keinem prosaischen Alltagsthun mehr im Stande waren, noch      heute nicht unter Einem Dache.</p><lb/>
      </div>
      <div n="3">
        <p>Zehn Jahre waren verflossen, seit Ida von Waldheim geflohen war. Des Grafen Selvar Schwester      war schon vor langer Zeit gestorben, er selbst, wenn nicht in seinen Neigungen, doch sehr in      seiner äußeren Er-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0068] fast unbewußt begegneten, — sie wollte sich losringen, er ließ sie nicht, immer von Neuem preßte er sie wilder an sich, bis er laut weinend sich auf ihre Schulter lehnte. Ich kann dich nicht lassen, Ida, rief er, ich bin unglückselig; denn ich liebe dich, nur dich, und wußte es nicht. Sie fand keine Sprache, still ließ sie ihn ausweinen, dann richtete sie ihn empor, sah ihm mit dem liebevollsten Blick ins Auge und reichte ihm die Hand. Die Abreise ward um ein paar Tage hinausgeschoben; denn noch mehr Stoff, als einst die Musik, gab ihnen nun das gelöste Herzensräthsel, das sie so unermüdlich besprachen, wie Kinder die überreichen Gaben der Weihnachtsbescherung. Auf eine kurze Zeit ward die Kunst, ja die ganze Welt vergessen, bis endlich die verständige Malerin erinnerte, daß die Reise und häusliche Einrichtung eines Ehepaars mehr besonnene Vorbereitung bedürfe, als die eines Junggesellen. Doch ein Glück war's, daß die Freundin diese Sorge auf sich nahm; denn sonst wären die Beiden, die in ihrer neuen Aufwallung zu keinem prosaischen Alltagsthun mehr im Stande waren, noch heute nicht unter Einem Dache. Zehn Jahre waren verflossen, seit Ida von Waldheim geflohen war. Des Grafen Selvar Schwester war schon vor langer Zeit gestorben, er selbst, wenn nicht in seinen Neigungen, doch sehr in seiner äußeren Er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/68
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/68>, abgerufen am 27.11.2024.