Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.scheinung gealtert. Seine Tochter und deren Gemahl, welcher ein Deutsch-Russe war, mußten den strengen Gesetzen des Czaren zufolge, nachdem sie mehreremale um längeren Aufenthalt in Deutschland petitionirt hatten, endlich auf ihre Güter heimkehren. So blieb Selvar, der keine nähere Verwandte besaß, die seinen Salon weiblich vertreten hätte, ziemlich vereinsamt in seinem Hause. Häufigere Reisen sollten ihn für die Stille entschädigen, die jetzt in dem ehemals so belebten Waldheim eingezogen war. In diesem Sommer war ihm selbst das Theater langweilig geworden; keine neuen Stücke, keine interessanten Gastspielerinnen wollten kommen. Er beschloß ein paar Monate bei seiner Tochter zuzubringen. Eine eintägige Rast von der Reiseanstrengung hielt er in einer mitteldeutschen Stadt, die in einer sehr lieblichen Gegend lag und, wie die vielen Bauten verriethen, in blühendem Wachsen begriffen war. Ist Theater hier? fragte er den Wirth seines Gasthofs. Heute nicht, war die Antwort, aber statt dessen ein Concert. Theater hätte mir mehr zugesagt, als ein Concert, erwiderte Selvar, doch womit soll ich den Abend ausfüllen? Lassen Sie mir eine Karte holen. Etwas zu spät angekommen, fand Selvar nur einen der entferntesten Plätze im Saale leer. Das Programm überlesend, fiel ihm der Name Sohling auf. Das scheinung gealtert. Seine Tochter und deren Gemahl, welcher ein Deutsch-Russe war, mußten den strengen Gesetzen des Czaren zufolge, nachdem sie mehreremale um längeren Aufenthalt in Deutschland petitionirt hatten, endlich auf ihre Güter heimkehren. So blieb Selvar, der keine nähere Verwandte besaß, die seinen Salon weiblich vertreten hätte, ziemlich vereinsamt in seinem Hause. Häufigere Reisen sollten ihn für die Stille entschädigen, die jetzt in dem ehemals so belebten Waldheim eingezogen war. In diesem Sommer war ihm selbst das Theater langweilig geworden; keine neuen Stücke, keine interessanten Gastspielerinnen wollten kommen. Er beschloß ein paar Monate bei seiner Tochter zuzubringen. Eine eintägige Rast von der Reiseanstrengung hielt er in einer mitteldeutschen Stadt, die in einer sehr lieblichen Gegend lag und, wie die vielen Bauten verriethen, in blühendem Wachsen begriffen war. Ist Theater hier? fragte er den Wirth seines Gasthofs. Heute nicht, war die Antwort, aber statt dessen ein Concert. Theater hätte mir mehr zugesagt, als ein Concert, erwiderte Selvar, doch womit soll ich den Abend ausfüllen? Lassen Sie mir eine Karte holen. Etwas zu spät angekommen, fand Selvar nur einen der entferntesten Plätze im Saale leer. Das Programm überlesend, fiel ihm der Name Sohling auf. Das <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0069"/> scheinung gealtert. Seine Tochter und deren Gemahl, welcher ein Deutsch-Russe war, mußten den strengen Gesetzen des Czaren zufolge, nachdem sie mehreremale um längeren Aufenthalt in Deutschland petitionirt hatten, endlich auf ihre Güter heimkehren. So blieb Selvar, der keine nähere Verwandte besaß, die seinen Salon weiblich vertreten hätte, ziemlich vereinsamt in seinem Hause. Häufigere Reisen sollten ihn für die Stille entschädigen, die jetzt in dem ehemals so belebten Waldheim eingezogen war.</p><lb/> <p>In diesem Sommer war ihm selbst das Theater langweilig geworden; keine neuen Stücke, keine interessanten Gastspielerinnen wollten kommen. Er beschloß ein paar Monate bei seiner Tochter zuzubringen. Eine eintägige Rast von der Reiseanstrengung hielt er in einer mitteldeutschen Stadt, die in einer sehr lieblichen Gegend lag und, wie die vielen Bauten verriethen, in blühendem Wachsen begriffen war.</p><lb/> <p>Ist Theater hier? fragte er den Wirth seines Gasthofs.</p><lb/> <p>Heute nicht, war die Antwort, aber statt dessen ein Concert.</p><lb/> <p>Theater hätte mir mehr zugesagt, als ein Concert, erwiderte Selvar, doch womit soll ich den Abend ausfüllen? Lassen Sie mir eine Karte holen.</p><lb/> <p>Etwas zu spät angekommen, fand Selvar nur einen der entferntesten Plätze im Saale leer. Das Programm überlesend, fiel ihm der Name Sohling auf. Das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0069]
scheinung gealtert. Seine Tochter und deren Gemahl, welcher ein Deutsch-Russe war, mußten den strengen Gesetzen des Czaren zufolge, nachdem sie mehreremale um längeren Aufenthalt in Deutschland petitionirt hatten, endlich auf ihre Güter heimkehren. So blieb Selvar, der keine nähere Verwandte besaß, die seinen Salon weiblich vertreten hätte, ziemlich vereinsamt in seinem Hause. Häufigere Reisen sollten ihn für die Stille entschädigen, die jetzt in dem ehemals so belebten Waldheim eingezogen war.
In diesem Sommer war ihm selbst das Theater langweilig geworden; keine neuen Stücke, keine interessanten Gastspielerinnen wollten kommen. Er beschloß ein paar Monate bei seiner Tochter zuzubringen. Eine eintägige Rast von der Reiseanstrengung hielt er in einer mitteldeutschen Stadt, die in einer sehr lieblichen Gegend lag und, wie die vielen Bauten verriethen, in blühendem Wachsen begriffen war.
Ist Theater hier? fragte er den Wirth seines Gasthofs.
Heute nicht, war die Antwort, aber statt dessen ein Concert.
Theater hätte mir mehr zugesagt, als ein Concert, erwiderte Selvar, doch womit soll ich den Abend ausfüllen? Lassen Sie mir eine Karte holen.
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/69>, abgerufen am 27.07.2024. |