Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Der Abschiedsabend war da. Noch einmal singen Sie mir eines der schottischen Lieder von Beethoven, bat er sie. Mein liebstes wissen Sie schon: O, Zaubrin, leb wohl! Der Blick, mit dem er in ihr Auge sah, war ihr von ihm noch nicht geworden. Sie bebte zusammen wie vor etwas Fremdem, Unheimlichem. Die liebe bekannte Melodie lös'te ihr wieder das Herz; es war ja ihr Freund, ihr Bruder, der heute von ihr schied, er, dem ihre stürmische Seele offen lag, der ihr den freien Blick in sein mildes, ruhiges Innere vergönnt hatte. Sie begann zu singen, doch aus dem tiefsten Herzensgrund quollen ihr die Thränen empor, und als die Stelle kam: O nur ein zärtlich Herz, Das Liebe will brechen, Versteht meine Qual, daß ich dich nicht mehr seh' -- da verdunkelte sich ihr Auge, kein Ton wollte mehr aus der gepreßten Brust, sie mußte plötzlich abbrechen und wandte ihr Gesicht nach der Wand hin. Gott, ist es möglich, sprach ihr Herz, ich liebe ja ihn, und keinen Andern! Sohling saß eine Weile schweigend neben ihr, dann stand er auf und nannte leise ihren Namen. Sie faßte sich und erhob sich ihm entgegen. Er wollte das Wort: Lebewohl, -- das grausame, trostlose Wort, aussprechen, doch es wollte nicht über seine Lippen. Ganz selbstvergessen umfaßte er sie, sie ruhte mit dem Haupt auf seiner Brust, dann ein einziger Kuß, in dem sie sich Der Abschiedsabend war da. Noch einmal singen Sie mir eines der schottischen Lieder von Beethoven, bat er sie. Mein liebstes wissen Sie schon: O, Zaubrin, leb wohl! Der Blick, mit dem er in ihr Auge sah, war ihr von ihm noch nicht geworden. Sie bebte zusammen wie vor etwas Fremdem, Unheimlichem. Die liebe bekannte Melodie lös'te ihr wieder das Herz; es war ja ihr Freund, ihr Bruder, der heute von ihr schied, er, dem ihre stürmische Seele offen lag, der ihr den freien Blick in sein mildes, ruhiges Innere vergönnt hatte. Sie begann zu singen, doch aus dem tiefsten Herzensgrund quollen ihr die Thränen empor, und als die Stelle kam: O nur ein zärtlich Herz, Das Liebe will brechen, Versteht meine Qual, daß ich dich nicht mehr seh' — da verdunkelte sich ihr Auge, kein Ton wollte mehr aus der gepreßten Brust, sie mußte plötzlich abbrechen und wandte ihr Gesicht nach der Wand hin. Gott, ist es möglich, sprach ihr Herz, ich liebe ja ihn, und keinen Andern! Sohling saß eine Weile schweigend neben ihr, dann stand er auf und nannte leise ihren Namen. Sie faßte sich und erhob sich ihm entgegen. Er wollte das Wort: Lebewohl, — das grausame, trostlose Wort, aussprechen, doch es wollte nicht über seine Lippen. Ganz selbstvergessen umfaßte er sie, sie ruhte mit dem Haupt auf seiner Brust, dann ein einziger Kuß, in dem sie sich <TEI> <text> <body> <div n="2"> <pb facs="#f0067"/> <p>Der Abschiedsabend war da. Noch einmal singen Sie mir eines der schottischen Lieder von Beethoven, bat er sie. Mein liebstes wissen Sie schon: O, Zaubrin, leb wohl!</p><lb/> <p>Der Blick, mit dem er in ihr Auge sah, war ihr von ihm noch nicht geworden. Sie bebte zusammen wie vor etwas Fremdem, Unheimlichem. Die liebe bekannte Melodie lös'te ihr wieder das Herz; es war ja ihr Freund, ihr Bruder, der heute von ihr schied, er, dem ihre stürmische Seele offen lag, der ihr den freien Blick in sein mildes, ruhiges Innere vergönnt hatte. Sie begann zu singen, doch aus dem tiefsten Herzensgrund quollen ihr die Thränen empor, und als die Stelle kam:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>O nur ein zärtlich Herz,</l> <l>Das Liebe will brechen,</l> <l>Versteht meine Qual, daß ich dich nicht mehr seh' —</l> </lg> <p>da verdunkelte sich ihr Auge, kein Ton wollte mehr aus der gepreßten Brust, sie mußte plötzlich abbrechen und wandte ihr Gesicht nach der Wand hin. Gott, ist es möglich, sprach ihr Herz, ich liebe ja ihn, und keinen Andern!</p><lb/> <p>Sohling saß eine Weile schweigend neben ihr, dann stand er auf und nannte leise ihren Namen. Sie faßte sich und erhob sich ihm entgegen. Er wollte das Wort: Lebewohl, — das grausame, trostlose Wort, aussprechen, doch es wollte nicht über seine Lippen. Ganz selbstvergessen umfaßte er sie, sie ruhte mit dem Haupt auf seiner Brust, dann ein einziger Kuß, in dem sie sich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0067]
Der Abschiedsabend war da. Noch einmal singen Sie mir eines der schottischen Lieder von Beethoven, bat er sie. Mein liebstes wissen Sie schon: O, Zaubrin, leb wohl!
Der Blick, mit dem er in ihr Auge sah, war ihr von ihm noch nicht geworden. Sie bebte zusammen wie vor etwas Fremdem, Unheimlichem. Die liebe bekannte Melodie lös'te ihr wieder das Herz; es war ja ihr Freund, ihr Bruder, der heute von ihr schied, er, dem ihre stürmische Seele offen lag, der ihr den freien Blick in sein mildes, ruhiges Innere vergönnt hatte. Sie begann zu singen, doch aus dem tiefsten Herzensgrund quollen ihr die Thränen empor, und als die Stelle kam:
O nur ein zärtlich Herz, Das Liebe will brechen, Versteht meine Qual, daß ich dich nicht mehr seh' —
da verdunkelte sich ihr Auge, kein Ton wollte mehr aus der gepreßten Brust, sie mußte plötzlich abbrechen und wandte ihr Gesicht nach der Wand hin. Gott, ist es möglich, sprach ihr Herz, ich liebe ja ihn, und keinen Andern!
Sohling saß eine Weile schweigend neben ihr, dann stand er auf und nannte leise ihren Namen. Sie faßte sich und erhob sich ihm entgegen. Er wollte das Wort: Lebewohl, — das grausame, trostlose Wort, aussprechen, doch es wollte nicht über seine Lippen. Ganz selbstvergessen umfaßte er sie, sie ruhte mit dem Haupt auf seiner Brust, dann ein einziger Kuß, in dem sie sich
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