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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Der junge Concertmeister Sohling saß im Kreise einiger Collegen, die sich in einem öffentlichen Garten vertraulich von ihren Verhältnissen unterhielten. Einer, der zugleich Klavierlehrer war, erzählte Anekdoten von seinen Schülerinnen:

Da hatte mich neulich die Baronin zu einer ihrer musikalischen Soireen gezogen, wo ich ein paar Etüden von Chopin vorspielte. Bringen Sie mir diese Etüden doch morgen, sagte sie, ich will sie auch durchspielen! Ich, gerade heraus, erwidere: Die sind zu schwer, Frau Baronin, die können Sie unmöglich spielen! Sie wollte aber durchaus an die Nr. 11 in Es-Dur mit den unmenschlich weiten Griffen. Als sie nun mit hartnäckiger Todesverachtung einen Accord so falsch wie den andern hinwürgte, hörte ich mit stummer Verzweiflung zu; da ermahnte sie mich, sie doch sans gene zu corrigiren. Ich begann also beim nächsten Takt, jede Note zu kritisiren; denn es kam gar keine reine vor. Da sagte sie gleichmüthig: Weiter, weiter! Und so wechselte sie ab mit: Ei, so helfen Sie doch, und sagen, wo ich falsch greife! und: Weiter, weiter! Als das Stück aus war, sagte ihr Mann, der kopfschüttelnd zugehört hatte: Mais c'est un diable de compositeur, ce Chopin la!

Wenn ich nur begreifen könnte, fragte Sohling, auf welche Art sich diese Dame bei den unmusikalischen Leuten in den Ruf einer Musikkennerin gebracht hat?

Nun, erwiderte der Vorige, den Ruf halten nur

Der junge Concertmeister Sohling saß im Kreise einiger Collegen, die sich in einem öffentlichen Garten vertraulich von ihren Verhältnissen unterhielten. Einer, der zugleich Klavierlehrer war, erzählte Anekdoten von seinen Schülerinnen:

Da hatte mich neulich die Baronin zu einer ihrer musikalischen Soirèen gezogen, wo ich ein paar Etüden von Chopin vorspielte. Bringen Sie mir diese Etüden doch morgen, sagte sie, ich will sie auch durchspielen! Ich, gerade heraus, erwidere: Die sind zu schwer, Frau Baronin, die können Sie unmöglich spielen! Sie wollte aber durchaus an die Nr. 11 in Es-Dur mit den unmenschlich weiten Griffen. Als sie nun mit hartnäckiger Todesverachtung einen Accord so falsch wie den andern hinwürgte, hörte ich mit stummer Verzweiflung zu; da ermahnte sie mich, sie doch sans gêne zu corrigiren. Ich begann also beim nächsten Takt, jede Note zu kritisiren; denn es kam gar keine reine vor. Da sagte sie gleichmüthig: Weiter, weiter! Und so wechselte sie ab mit: Ei, so helfen Sie doch, und sagen, wo ich falsch greife! und: Weiter, weiter! Als das Stück aus war, sagte ihr Mann, der kopfschüttelnd zugehört hatte: Mais c’est un diable de compositeur, ce Chopin là!

Wenn ich nur begreifen könnte, fragte Sohling, auf welche Art sich diese Dame bei den unmusikalischen Leuten in den Ruf einer Musikkennerin gebracht hat?

Nun, erwiderte der Vorige, den Ruf halten nur

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[0045] Der junge Concertmeister Sohling saß im Kreise einiger Collegen, die sich in einem öffentlichen Garten vertraulich von ihren Verhältnissen unterhielten. Einer, der zugleich Klavierlehrer war, erzählte Anekdoten von seinen Schülerinnen: Da hatte mich neulich die Baronin zu einer ihrer musikalischen Soirèen gezogen, wo ich ein paar Etüden von Chopin vorspielte. Bringen Sie mir diese Etüden doch morgen, sagte sie, ich will sie auch durchspielen! Ich, gerade heraus, erwidere: Die sind zu schwer, Frau Baronin, die können Sie unmöglich spielen! Sie wollte aber durchaus an die Nr. 11 in Es-Dur mit den unmenschlich weiten Griffen. Als sie nun mit hartnäckiger Todesverachtung einen Accord so falsch wie den andern hinwürgte, hörte ich mit stummer Verzweiflung zu; da ermahnte sie mich, sie doch sans gêne zu corrigiren. Ich begann also beim nächsten Takt, jede Note zu kritisiren; denn es kam gar keine reine vor. Da sagte sie gleichmüthig: Weiter, weiter! Und so wechselte sie ab mit: Ei, so helfen Sie doch, und sagen, wo ich falsch greife! und: Weiter, weiter! Als das Stück aus war, sagte ihr Mann, der kopfschüttelnd zugehört hatte: Mais c’est un diable de compositeur, ce Chopin là! Wenn ich nur begreifen könnte, fragte Sohling, auf welche Art sich diese Dame bei den unmusikalischen Leuten in den Ruf einer Musikkennerin gebracht hat? Nun, erwiderte der Vorige, den Ruf halten nur

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/45>, abgerufen am 23.11.2024.