Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Als am andern Morgen früh Selvar in ihrer Wohnung nach ihr fragte, hieß es, sie sei schon am vorigen Abend mit einbrechender Nacht fortgefahren. Sie war ein sonderbares Mädchen, dachte er; etwas mehr kalte Besonnenheit wäre ihr zu wünschen gewesen, doch hat sie eigentlich diesmal nichts ganz Verkehrtes ergriffen, wenn sie sich doch nicht in ihre gesellschaftliche Stellung fügen konnte. Im Spätsommer trafen sich zufällig Selvar's Schwester und Frau Werl auf einsamem Spaziergange. Fast zugleich fragte Jede die Andere: Haben Sie noch keine Nachricht von unserer Freundin Ida? Die Gräfin hatte oft eine leise Besorgniß wegen Ida's Gemüthsverfassung genährt; dahingegen fürchtete Frau Werl mehr für ihre äußere Lage und sprach darüber weitläufig mit der vornehmen Dame, welcher das Wort Noth noch nicht eingefallen war. Erschreckt von solcher Möglichkeit mahnte die Gräfin daheim ihren Bruder, sich doch einmal zu erkundigen, was aus Ida geworden. Dieser erinnerte sich, daß ein junger Musiker, der ehedem Lehrer seiner Tochter gewesen war, in Ida's jetzigem Wohnort eine Stelle beim Orchester habe, und bat diesen schriftlich, die junge Künstlerin zu besuchen und ihm Nachricht von ihrem dortigen Ergehen zu geben. Als am andern Morgen früh Selvar in ihrer Wohnung nach ihr fragte, hieß es, sie sei schon am vorigen Abend mit einbrechender Nacht fortgefahren. Sie war ein sonderbares Mädchen, dachte er; etwas mehr kalte Besonnenheit wäre ihr zu wünschen gewesen, doch hat sie eigentlich diesmal nichts ganz Verkehrtes ergriffen, wenn sie sich doch nicht in ihre gesellschaftliche Stellung fügen konnte. Im Spätsommer trafen sich zufällig Selvar's Schwester und Frau Werl auf einsamem Spaziergange. Fast zugleich fragte Jede die Andere: Haben Sie noch keine Nachricht von unserer Freundin Ida? Die Gräfin hatte oft eine leise Besorgniß wegen Ida's Gemüthsverfassung genährt; dahingegen fürchtete Frau Werl mehr für ihre äußere Lage und sprach darüber weitläufig mit der vornehmen Dame, welcher das Wort Noth noch nicht eingefallen war. Erschreckt von solcher Möglichkeit mahnte die Gräfin daheim ihren Bruder, sich doch einmal zu erkundigen, was aus Ida geworden. Dieser erinnerte sich, daß ein junger Musiker, der ehedem Lehrer seiner Tochter gewesen war, in Ida's jetzigem Wohnort eine Stelle beim Orchester habe, und bat diesen schriftlich, die junge Künstlerin zu besuchen und ihm Nachricht von ihrem dortigen Ergehen zu geben. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0044"/> <p>Als am andern Morgen früh Selvar in ihrer Wohnung nach ihr fragte, hieß es, sie sei schon am vorigen Abend mit einbrechender Nacht fortgefahren. Sie war ein sonderbares Mädchen, dachte er; etwas mehr kalte Besonnenheit wäre ihr zu wünschen gewesen, doch hat sie eigentlich diesmal nichts ganz Verkehrtes ergriffen, wenn sie sich doch nicht in ihre gesellschaftliche Stellung fügen konnte.</p><lb/> <p>Im Spätsommer trafen sich zufällig Selvar's Schwester und Frau Werl auf einsamem Spaziergange. Fast zugleich fragte Jede die Andere: Haben Sie noch keine Nachricht von unserer Freundin Ida?</p><lb/> <p>Die Gräfin hatte oft eine leise Besorgniß wegen Ida's Gemüthsverfassung genährt; dahingegen fürchtete Frau Werl mehr für ihre äußere Lage und sprach darüber weitläufig mit der vornehmen Dame, welcher das Wort Noth noch nicht eingefallen war. Erschreckt von solcher Möglichkeit mahnte die Gräfin daheim ihren Bruder, sich doch einmal zu erkundigen, was aus Ida geworden. Dieser erinnerte sich, daß ein junger Musiker, der ehedem Lehrer seiner Tochter gewesen war, in Ida's jetzigem Wohnort eine Stelle beim Orchester habe, und bat diesen schriftlich, die junge Künstlerin zu besuchen und ihm Nachricht von ihrem dortigen Ergehen zu geben.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
Als am andern Morgen früh Selvar in ihrer Wohnung nach ihr fragte, hieß es, sie sei schon am vorigen Abend mit einbrechender Nacht fortgefahren. Sie war ein sonderbares Mädchen, dachte er; etwas mehr kalte Besonnenheit wäre ihr zu wünschen gewesen, doch hat sie eigentlich diesmal nichts ganz Verkehrtes ergriffen, wenn sie sich doch nicht in ihre gesellschaftliche Stellung fügen konnte.
Im Spätsommer trafen sich zufällig Selvar's Schwester und Frau Werl auf einsamem Spaziergange. Fast zugleich fragte Jede die Andere: Haben Sie noch keine Nachricht von unserer Freundin Ida?
Die Gräfin hatte oft eine leise Besorgniß wegen Ida's Gemüthsverfassung genährt; dahingegen fürchtete Frau Werl mehr für ihre äußere Lage und sprach darüber weitläufig mit der vornehmen Dame, welcher das Wort Noth noch nicht eingefallen war. Erschreckt von solcher Möglichkeit mahnte die Gräfin daheim ihren Bruder, sich doch einmal zu erkundigen, was aus Ida geworden. Dieser erinnerte sich, daß ein junger Musiker, der ehedem Lehrer seiner Tochter gewesen war, in Ida's jetzigem Wohnort eine Stelle beim Orchester habe, und bat diesen schriftlich, die junge Künstlerin zu besuchen und ihm Nachricht von ihrem dortigen Ergehen zu geben.
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/44>, abgerufen am 16.02.2025. |