Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.die Leute oben, die sie nie spielen gehört haben. Sie hat eine fabelhafte Kühnheit im Beurtheilen. Leider imponirt sie damit Keinem vom Fach, sagte Sohling; denn sie bringt seit Menschengedenken nur zwei Phrasen vor. Wird eine Sängerin gelobt, so sagt die Baronin: Es ist nur Schade, daß sie keine Idee von Portament hat. Und ist von einem guten Klavierspieler die Rede, so wirft sie ein: Wie kann man dies Spiel schön finden; denn er hat ja einen schlechten Anschlag. Im umgekehrten Falle, wenn eine Anfängerin auftritt, so sagt die Baronin: Sie kann zwar noch nicht viel, aber sie hat ein natürliches Portament, was man bei mancher großen Sängerin vermißt. Oder: Man mag diesen Spieler tadeln, wie man will, ich finde aber, daß er einen guten Anschlag hat, und das ist die Hauptsache. Auch mir ist heute eine gute Probe von weiblichem Kunsturtheil vorgekommen, berichtete ein Dritter. Ich gebe einer kleinen Engländerin Stunde, die vorher nichts als Walzer gelernt hatte. Ich brachte, wie sich versteht, die Klavierschule an die Stelle, und da klagte die Kleine ihrer Mutter bitterlich, daß der neue Lehrer sie lauter ugly pieces spielen ließe. Spielte ich dann ein solches richtig, so tröstete die Mutter: Look, my dear child, the ugliest piece is turned in to a fine piece, when it is well practised. Als ich heute zur Stunde kam, fand ich die ganze Familie um die neueste Etüde versammelt, und die Mama rief vom die Leute oben, die sie nie spielen gehört haben. Sie hat eine fabelhafte Kühnheit im Beurtheilen. Leider imponirt sie damit Keinem vom Fach, sagte Sohling; denn sie bringt seit Menschengedenken nur zwei Phrasen vor. Wird eine Sängerin gelobt, so sagt die Baronin: Es ist nur Schade, daß sie keine Idee von Portament hat. Und ist von einem guten Klavierspieler die Rede, so wirft sie ein: Wie kann man dies Spiel schön finden; denn er hat ja einen schlechten Anschlag. Im umgekehrten Falle, wenn eine Anfängerin auftritt, so sagt die Baronin: Sie kann zwar noch nicht viel, aber sie hat ein natürliches Portament, was man bei mancher großen Sängerin vermißt. Oder: Man mag diesen Spieler tadeln, wie man will, ich finde aber, daß er einen guten Anschlag hat, und das ist die Hauptsache. Auch mir ist heute eine gute Probe von weiblichem Kunsturtheil vorgekommen, berichtete ein Dritter. Ich gebe einer kleinen Engländerin Stunde, die vorher nichts als Walzer gelernt hatte. Ich brachte, wie sich versteht, die Klavierschule an die Stelle, und da klagte die Kleine ihrer Mutter bitterlich, daß der neue Lehrer sie lauter ugly pieces spielen ließe. Spielte ich dann ein solches richtig, so tröstete die Mutter: Look, my dear child, the ugliest piece is turned in to a fine piece, when it is well practised. Als ich heute zur Stunde kam, fand ich die ganze Familie um die neueste Etüde versammelt, und die Mama rief vom <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0046"/> die Leute oben, die sie nie spielen gehört haben. Sie hat eine fabelhafte Kühnheit im Beurtheilen.</p><lb/> <p>Leider imponirt sie damit Keinem vom Fach, sagte Sohling; denn sie bringt seit Menschengedenken nur zwei Phrasen vor. Wird eine Sängerin gelobt, so sagt die Baronin: Es ist nur Schade, daß sie keine Idee von Portament hat. Und ist von einem guten Klavierspieler die Rede, so wirft sie ein: Wie kann man dies Spiel schön finden; denn er hat ja einen schlechten Anschlag. Im umgekehrten Falle, wenn eine Anfängerin auftritt, so sagt die Baronin: Sie kann zwar noch nicht viel, aber sie hat ein natürliches Portament, was man bei mancher großen Sängerin vermißt. Oder: Man mag diesen Spieler tadeln, wie man will, ich finde aber, daß er einen guten Anschlag hat, und das ist die Hauptsache.</p><lb/> <p>Auch mir ist heute eine gute Probe von weiblichem Kunsturtheil vorgekommen, berichtete ein Dritter. Ich gebe einer kleinen Engländerin Stunde, die vorher nichts als Walzer gelernt hatte. Ich brachte, wie sich versteht, die Klavierschule an die Stelle, und da klagte die Kleine ihrer Mutter bitterlich, daß der neue Lehrer sie lauter ugly pieces spielen ließe. Spielte ich dann ein solches richtig, so tröstete die Mutter: Look, my dear child, the ugliest piece is turned in to a fine piece, when it is well practised. Als ich heute zur Stunde kam, fand ich die ganze Familie um die neueste Etüde versammelt, und die Mama rief vom<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0046]
die Leute oben, die sie nie spielen gehört haben. Sie hat eine fabelhafte Kühnheit im Beurtheilen.
Leider imponirt sie damit Keinem vom Fach, sagte Sohling; denn sie bringt seit Menschengedenken nur zwei Phrasen vor. Wird eine Sängerin gelobt, so sagt die Baronin: Es ist nur Schade, daß sie keine Idee von Portament hat. Und ist von einem guten Klavierspieler die Rede, so wirft sie ein: Wie kann man dies Spiel schön finden; denn er hat ja einen schlechten Anschlag. Im umgekehrten Falle, wenn eine Anfängerin auftritt, so sagt die Baronin: Sie kann zwar noch nicht viel, aber sie hat ein natürliches Portament, was man bei mancher großen Sängerin vermißt. Oder: Man mag diesen Spieler tadeln, wie man will, ich finde aber, daß er einen guten Anschlag hat, und das ist die Hauptsache.
Auch mir ist heute eine gute Probe von weiblichem Kunsturtheil vorgekommen, berichtete ein Dritter. Ich gebe einer kleinen Engländerin Stunde, die vorher nichts als Walzer gelernt hatte. Ich brachte, wie sich versteht, die Klavierschule an die Stelle, und da klagte die Kleine ihrer Mutter bitterlich, daß der neue Lehrer sie lauter ugly pieces spielen ließe. Spielte ich dann ein solches richtig, so tröstete die Mutter: Look, my dear child, the ugliest piece is turned in to a fine piece, when it is well practised. Als ich heute zur Stunde kam, fand ich die ganze Familie um die neueste Etüde versammelt, und die Mama rief vom
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/46>, abgerufen am 27.07.2024. |