Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ging noch die Mäßigung und Routine ab, die ein Musiklehrer vor Allem braucht, um nicht aus übelverstandener Pflichttreue den Schüler auf einmal mehr zu lehren, als er binnen einer Stunde begreifen kann. Nun kam das Schwerste hinzu: ihr Gemüth war von einem andern Interesse ganz erfüllt, und wenn sie sich bewußt ward, daß sie die Schülerin gedankenlos hatte weiter spielen lasten, weil sie in ihren Träumen bei dem schönen Freunde drüben in Waldheim war, so schreckte sie zusammen und verdoppelte ihre Aufmerksamkeit. Mitten im Streben, jene Gewissenlosigkeit wieder gut zu machen, ward ihr von Neuem die Seele entführt. Erschöpft kam sie nach Hause und warf sich in die Sophaecke, um endlich ungestört an ihn zu denken; dann scheuchte der Trieb, Neues zu lernen, sie wieder auf, und mit unglaublicher Anstrengung zwang sie sich, die wenigen Stunden, die ihr bis zur Nacht blieben, redlich auf ihre Fortbildung zu wenden. Aber alle Vorsätze zerrissen, wenn der Wagen des Grafen draußen hielt, um sie nach Waldheim zu führen. Diese Einladungen waren für sie unwiderstehlich, und doch kam sie nie zu einer reinen Seelenstimmung, wenn sie ihnen gefolgt war. So sehr sie sich ihrer alten Beschützerin entfremdet hatte, hielt sie sich doch verpflichtet, sie jedesmal zu besuchen, ehe sie das Haus der neuen Freunde betrat. Dann konnte Frau Werl sich's nie versagen, die junge Künstlerin, die sich ihrer Botmäßigkeit entzogen ging noch die Mäßigung und Routine ab, die ein Musiklehrer vor Allem braucht, um nicht aus übelverstandener Pflichttreue den Schüler auf einmal mehr zu lehren, als er binnen einer Stunde begreifen kann. Nun kam das Schwerste hinzu: ihr Gemüth war von einem andern Interesse ganz erfüllt, und wenn sie sich bewußt ward, daß sie die Schülerin gedankenlos hatte weiter spielen lasten, weil sie in ihren Träumen bei dem schönen Freunde drüben in Waldheim war, so schreckte sie zusammen und verdoppelte ihre Aufmerksamkeit. Mitten im Streben, jene Gewissenlosigkeit wieder gut zu machen, ward ihr von Neuem die Seele entführt. Erschöpft kam sie nach Hause und warf sich in die Sophaecke, um endlich ungestört an ihn zu denken; dann scheuchte der Trieb, Neues zu lernen, sie wieder auf, und mit unglaublicher Anstrengung zwang sie sich, die wenigen Stunden, die ihr bis zur Nacht blieben, redlich auf ihre Fortbildung zu wenden. Aber alle Vorsätze zerrissen, wenn der Wagen des Grafen draußen hielt, um sie nach Waldheim zu führen. Diese Einladungen waren für sie unwiderstehlich, und doch kam sie nie zu einer reinen Seelenstimmung, wenn sie ihnen gefolgt war. So sehr sie sich ihrer alten Beschützerin entfremdet hatte, hielt sie sich doch verpflichtet, sie jedesmal zu besuchen, ehe sie das Haus der neuen Freunde betrat. Dann konnte Frau Werl sich's nie versagen, die junge Künstlerin, die sich ihrer Botmäßigkeit entzogen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022"/> ging noch die Mäßigung und Routine ab, die ein Musiklehrer vor Allem braucht, um nicht aus übelverstandener Pflichttreue den Schüler auf einmal mehr zu lehren, als er binnen einer Stunde begreifen kann. Nun kam das Schwerste hinzu: ihr Gemüth war von einem andern Interesse ganz erfüllt, und wenn sie sich bewußt ward, daß sie die Schülerin gedankenlos hatte weiter spielen lasten, weil sie in ihren Träumen bei dem schönen Freunde drüben in Waldheim war, so schreckte sie zusammen und verdoppelte ihre Aufmerksamkeit. Mitten im Streben, jene Gewissenlosigkeit wieder gut zu machen, ward ihr von Neuem die Seele entführt. Erschöpft kam sie nach Hause und warf sich in die Sophaecke, um endlich ungestört an ihn zu denken; dann scheuchte der Trieb, Neues zu lernen, sie wieder auf, und mit unglaublicher Anstrengung zwang sie sich, die wenigen Stunden, die ihr bis zur Nacht blieben, redlich auf ihre Fortbildung zu wenden. Aber alle Vorsätze zerrissen, wenn der Wagen des Grafen draußen hielt, um sie nach Waldheim zu führen. Diese Einladungen waren für sie unwiderstehlich, und doch kam sie nie zu einer reinen Seelenstimmung, wenn sie ihnen gefolgt war.</p><lb/> <p>So sehr sie sich ihrer alten Beschützerin entfremdet hatte, hielt sie sich doch verpflichtet, sie jedesmal zu besuchen, ehe sie das Haus der neuen Freunde betrat. Dann konnte Frau Werl sich's nie versagen, die junge Künstlerin, die sich ihrer Botmäßigkeit entzogen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
ging noch die Mäßigung und Routine ab, die ein Musiklehrer vor Allem braucht, um nicht aus übelverstandener Pflichttreue den Schüler auf einmal mehr zu lehren, als er binnen einer Stunde begreifen kann. Nun kam das Schwerste hinzu: ihr Gemüth war von einem andern Interesse ganz erfüllt, und wenn sie sich bewußt ward, daß sie die Schülerin gedankenlos hatte weiter spielen lasten, weil sie in ihren Träumen bei dem schönen Freunde drüben in Waldheim war, so schreckte sie zusammen und verdoppelte ihre Aufmerksamkeit. Mitten im Streben, jene Gewissenlosigkeit wieder gut zu machen, ward ihr von Neuem die Seele entführt. Erschöpft kam sie nach Hause und warf sich in die Sophaecke, um endlich ungestört an ihn zu denken; dann scheuchte der Trieb, Neues zu lernen, sie wieder auf, und mit unglaublicher Anstrengung zwang sie sich, die wenigen Stunden, die ihr bis zur Nacht blieben, redlich auf ihre Fortbildung zu wenden. Aber alle Vorsätze zerrissen, wenn der Wagen des Grafen draußen hielt, um sie nach Waldheim zu führen. Diese Einladungen waren für sie unwiderstehlich, und doch kam sie nie zu einer reinen Seelenstimmung, wenn sie ihnen gefolgt war.
So sehr sie sich ihrer alten Beschützerin entfremdet hatte, hielt sie sich doch verpflichtet, sie jedesmal zu besuchen, ehe sie das Haus der neuen Freunde betrat. Dann konnte Frau Werl sich's nie versagen, die junge Künstlerin, die sich ihrer Botmäßigkeit entzogen
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/22>, abgerufen am 16.02.2025. |