Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.hatte, mit einer Warnung oder einem Spott zu quälen, der ihr den Abend verbitterte. Selten ward ihr der Ersatz eines einsamen, recht herzlichen Gesprächs mit Selvar; denn die junge Gräfin, seine Tochter, ließ es absichtlich nicht dazu kommen. An flüchtige leidenschaftliche Zuneigungen des Grafen zu dieser oder jener Weltdame war seine Familie gewöhnt und fand sie ganz in der Ordnung. Hier aber drohte ein ernstlicher Ausgang, weil die Leidenschaft mit jugendlicher Heftigkeit erwidert ward. Diese Besorgniß war indessen ungegründet; denn so sehr Selvar manche kleine Neckereien schmeichelten, es ward ihm doch etwas ängstlich dabei, wenn er an Ida's geringe Selbstbeherrschung und an ihre Weltunkenntniß dachte.. Stets war er in Gefahr, daß sie sich durch eine unverhohlene Liebesäußerung vor Menschen verrieth, die darüber witzelten, während er selbst in den Schranken der Klugheit blieb. Darum ward er immer sparsamer mit Ausdrücken der Leidenschaft und ließ sich nur in solchen Stunden den Zügel schießen, wo er sicher war, daß ihm Zeit blieb, seine Enthusiastin wieder zu beruhigen. Die Musik war hiezu die beste Vermittlerin. Ida's eigene Seele lechzte nach geistiger Nahrung, wenn sie einen Tag lang die musikalischen Fadaisen ihrer Schülerinnen durchgestanden hatte. Ihre geliebten Melodien waren ihr nun zugleich Liebessprache geworden. Selvar fühlte es, wie sie mit der höchsten Glut ihres hatte, mit einer Warnung oder einem Spott zu quälen, der ihr den Abend verbitterte. Selten ward ihr der Ersatz eines einsamen, recht herzlichen Gesprächs mit Selvar; denn die junge Gräfin, seine Tochter, ließ es absichtlich nicht dazu kommen. An flüchtige leidenschaftliche Zuneigungen des Grafen zu dieser oder jener Weltdame war seine Familie gewöhnt und fand sie ganz in der Ordnung. Hier aber drohte ein ernstlicher Ausgang, weil die Leidenschaft mit jugendlicher Heftigkeit erwidert ward. Diese Besorgniß war indessen ungegründet; denn so sehr Selvar manche kleine Neckereien schmeichelten, es ward ihm doch etwas ängstlich dabei, wenn er an Ida's geringe Selbstbeherrschung und an ihre Weltunkenntniß dachte.. Stets war er in Gefahr, daß sie sich durch eine unverhohlene Liebesäußerung vor Menschen verrieth, die darüber witzelten, während er selbst in den Schranken der Klugheit blieb. Darum ward er immer sparsamer mit Ausdrücken der Leidenschaft und ließ sich nur in solchen Stunden den Zügel schießen, wo er sicher war, daß ihm Zeit blieb, seine Enthusiastin wieder zu beruhigen. Die Musik war hiezu die beste Vermittlerin. Ida's eigene Seele lechzte nach geistiger Nahrung, wenn sie einen Tag lang die musikalischen Fadaisen ihrer Schülerinnen durchgestanden hatte. Ihre geliebten Melodien waren ihr nun zugleich Liebessprache geworden. Selvar fühlte es, wie sie mit der höchsten Glut ihres <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0023"/> hatte, mit einer Warnung oder einem Spott zu quälen, der ihr den Abend verbitterte. Selten ward ihr der Ersatz eines einsamen, recht herzlichen Gesprächs mit Selvar; denn die junge Gräfin, seine Tochter, ließ es absichtlich nicht dazu kommen. An flüchtige leidenschaftliche Zuneigungen des Grafen zu dieser oder jener Weltdame war seine Familie gewöhnt und fand sie ganz in der Ordnung. Hier aber drohte ein ernstlicher Ausgang, weil die Leidenschaft mit jugendlicher Heftigkeit erwidert ward.</p><lb/> <p>Diese Besorgniß war indessen ungegründet; denn so sehr Selvar manche kleine Neckereien schmeichelten, es ward ihm doch etwas ängstlich dabei, wenn er an Ida's geringe Selbstbeherrschung und an ihre Weltunkenntniß dachte.. Stets war er in Gefahr, daß sie sich durch eine unverhohlene Liebesäußerung vor Menschen verrieth, die darüber witzelten, während er selbst in den Schranken der Klugheit blieb. Darum ward er immer sparsamer mit Ausdrücken der Leidenschaft und ließ sich nur in solchen Stunden den Zügel schießen, wo er sicher war, daß ihm Zeit blieb, seine Enthusiastin wieder zu beruhigen.</p><lb/> <p>Die Musik war hiezu die beste Vermittlerin. Ida's eigene Seele lechzte nach geistiger Nahrung, wenn sie einen Tag lang die musikalischen Fadaisen ihrer Schülerinnen durchgestanden hatte. Ihre geliebten Melodien waren ihr nun zugleich Liebessprache geworden. Selvar fühlte es, wie sie mit der höchsten Glut ihres<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0023]
hatte, mit einer Warnung oder einem Spott zu quälen, der ihr den Abend verbitterte. Selten ward ihr der Ersatz eines einsamen, recht herzlichen Gesprächs mit Selvar; denn die junge Gräfin, seine Tochter, ließ es absichtlich nicht dazu kommen. An flüchtige leidenschaftliche Zuneigungen des Grafen zu dieser oder jener Weltdame war seine Familie gewöhnt und fand sie ganz in der Ordnung. Hier aber drohte ein ernstlicher Ausgang, weil die Leidenschaft mit jugendlicher Heftigkeit erwidert ward.
Diese Besorgniß war indessen ungegründet; denn so sehr Selvar manche kleine Neckereien schmeichelten, es ward ihm doch etwas ängstlich dabei, wenn er an Ida's geringe Selbstbeherrschung und an ihre Weltunkenntniß dachte.. Stets war er in Gefahr, daß sie sich durch eine unverhohlene Liebesäußerung vor Menschen verrieth, die darüber witzelten, während er selbst in den Schranken der Klugheit blieb. Darum ward er immer sparsamer mit Ausdrücken der Leidenschaft und ließ sich nur in solchen Stunden den Zügel schießen, wo er sicher war, daß ihm Zeit blieb, seine Enthusiastin wieder zu beruhigen.
Die Musik war hiezu die beste Vermittlerin. Ida's eigene Seele lechzte nach geistiger Nahrung, wenn sie einen Tag lang die musikalischen Fadaisen ihrer Schülerinnen durchgestanden hatte. Ihre geliebten Melodien waren ihr nun zugleich Liebessprache geworden. Selvar fühlte es, wie sie mit der höchsten Glut ihres
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/23>, abgerufen am 26.07.2024. |