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Kerner, Justinus: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826.

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Man gewährt ihm, vor dem Bilde
Geigt er abermals sein Leid,
Und er rührt die Himmlischmilde,
Horch! melodisch rauscht ihr Kleid!
Lächelnd bückt das Bild sich nieder
Aus der lebenlosen Ruh,
Wirft dem armen Sohn der Lieder
Hin den zweyten goldnen Schuh.
Voll Erstaunen steht die Menge,
Und es sieht nun jeder Christ,
Wie der Mann der Volksgesänge
Selbst den Heil'gen theuer ist.
Schön geschmückt mit Bändern, Kränzen,
Wohl gestärkt mit Geld und Wein,
Führen sie zu Sang und Tänzen
In das Rathhaus ihn hinein.
Alle Unbill wird vergessen,
Schön zum Fest erhellt das Haus,
Und der Geiger ist gesessen
Obenan beym lust'gen Schmaus.
Aber als sie voll vom Weine,
Nimmt er seine Schuh zur Hand,
Wandert so im Mondenscheine
Lustig in ein andres Land.
Man gewaͤhrt ihm, vor dem Bilde
Geigt er abermals ſein Leid,
Und er ruͤhrt die Himmliſchmilde,
Horch! melodiſch rauſcht ihr Kleid!
Laͤchelnd buͤckt das Bild ſich nieder
Aus der lebenloſen Ruh,
Wirft dem armen Sohn der Lieder
Hin den zweyten goldnen Schuh.
Voll Erſtaunen ſteht die Menge,
Und es ſieht nun jeder Chriſt,
Wie der Mann der Volksgeſaͤnge
Selbſt den Heil'gen theuer iſt.
Schoͤn geſchmuͤckt mit Baͤndern, Kraͤnzen,
Wohl geſtaͤrkt mit Geld und Wein,
Fuͤhren ſie zu Sang und Taͤnzen
In das Rathhaus ihn hinein.
Alle Unbill wird vergeſſen,
Schoͤn zum Feſt erhellt das Haus,
Und der Geiger iſt geſeſſen
Obenan beym luſt'gen Schmaus.
Aber als ſie voll vom Weine,
Nimmt er ſeine Schuh zur Hand,
Wandert ſo im Mondenſcheine
Luſtig in ein andres Land.
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[150/0162] Man gewaͤhrt ihm, vor dem Bilde Geigt er abermals ſein Leid, Und er ruͤhrt die Himmliſchmilde, Horch! melodiſch rauſcht ihr Kleid! Laͤchelnd buͤckt das Bild ſich nieder Aus der lebenloſen Ruh, Wirft dem armen Sohn der Lieder Hin den zweyten goldnen Schuh. Voll Erſtaunen ſteht die Menge, Und es ſieht nun jeder Chriſt, Wie der Mann der Volksgeſaͤnge Selbſt den Heil'gen theuer iſt. Schoͤn geſchmuͤckt mit Baͤndern, Kraͤnzen, Wohl geſtaͤrkt mit Geld und Wein, Fuͤhren ſie zu Sang und Taͤnzen In das Rathhaus ihn hinein. Alle Unbill wird vergeſſen, Schoͤn zum Feſt erhellt das Haus, Und der Geiger iſt geſeſſen Obenan beym luſt'gen Schmaus. Aber als ſie voll vom Weine, Nimmt er ſeine Schuh zur Hand, Wandert ſo im Mondenſcheine Luſtig in ein andres Land.

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_gedichte_1826/162>, abgerufen am 27.04.2024.