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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.

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schlechts, er ist mit der Menschheit zum Mannesalter ge-
reift, und stirbt wohl erst, so wie die Sünde, mit dem
letzten Menschen aus. Der Aberglaube ist der Schlagschat-
ten unseres Gesichtes; und so wie unser Schatten immer
unsere Gestalt annimmt, so richtet sich der Aberglaube in
unzählig vielen Formen und Reflexen immer nach der in-
dividuellen Denkungsweise und Bildungsstufe der Menschen.
Er ist materiell und grob-sinnlich in den Hexen- und Ge-
spenstergeschichten der Bauern, er ist sinnig, zart und ge-
müthlich, wenn er in den ästhetischen Theevisiten unserer
Damen verhandelt wird, er ist gelehrt und schwülstig in
den Schriften unserer Philosophen, er ist mystisch und fromm
in der Dogmatik mancher Theologen. Unzählig viele Men-
schen, die sich ihrer Aufklärung rühmen, sind abergläubisch
ohne es zu wissen und zu wollen, trotz ihrer Versicherun-
gen vom Gegentheil. Und obgleich wir damit nicht bestrei-
ten wollen, daß der Aberglaube in einigen Gegenden mehr
als in andern herrscht, so sind doch gerade die Hohen-
loher
durch ihren heitern, leichtern Sinn, der überhaupt
den Franken eigen ist, weit weniger zum Aberglauben ge-
neigt, als andere Völkerstämme, was sich auch daraus er-
gibt, daß der Pietismus und Mysticismus und Separatis-
mus, der in andern Gegenden wuchert, im Hohenloh'schen
keinen Boden findet, wo er Wurzel fassen kann. Der Ab-
bruch des Hauses in Orlach ist kein Beweis dafür, daß
sich dieses Dorf durch Aberglauben auszeichnet. Wenn der
aufgeklärteste Kopf des achtzehnten Jahrhunderts, Fried-
rich der Große, das Pfarrhaus in dem Dorf Quarez bei
Glogau wegen Geisterspuk abbrechen und wieder neu bauen
ließ (wie mir die glaubwürdigsten Personen erzählten und
wie es in Schlesien allgemein bekannt seyn soll) so wird es
wohl Niemand den schlichten Bauersleuten in Orlach ver-
denken, wenn sie dasselbe thaten. Die Redaktion meint,
in Frankfurt hätte man das Haus nicht abgebrochen, son-
dern über die Absurdität gelacht und die Besessene in ein
Kranken- oder Irrenhaus gebracht. Das möchte ich be-

ſchlechts, er iſt mit der Menſchheit zum Mannesalter ge-
reift, und ſtirbt wohl erſt, ſo wie die Sünde, mit dem
letzten Menſchen aus. Der Aberglaube iſt der Schlagſchat-
ten unſeres Geſichtes; und ſo wie unſer Schatten immer
unſere Geſtalt annimmt, ſo richtet ſich der Aberglaube in
unzählig vielen Formen und Reflexen immer nach der in-
dividuellen Denkungsweiſe und Bildungsſtufe der Menſchen.
Er iſt materiell und grob-ſinnlich in den Hexen- und Ge-
ſpenſtergeſchichten der Bauern, er iſt ſinnig, zart und ge-
müthlich, wenn er in den äſthetiſchen Theeviſiten unſerer
Damen verhandelt wird, er iſt gelehrt und ſchwülſtig in
den Schriften unſerer Philoſophen, er iſt myſtiſch und fromm
in der Dogmatik mancher Theologen. Unzählig viele Men-
ſchen, die ſich ihrer Aufklärung rühmen, ſind abergläubiſch
ohne es zu wiſſen und zu wollen, trotz ihrer Verſicherun-
gen vom Gegentheil. Und obgleich wir damit nicht beſtrei-
ten wollen, daß der Aberglaube in einigen Gegenden mehr
als in andern herrſcht, ſo ſind doch gerade die Hohen-
loher
durch ihren heitern, leichtern Sinn, der überhaupt
den Franken eigen iſt, weit weniger zum Aberglauben ge-
neigt, als andere Völkerſtämme, was ſich auch daraus er-
gibt, daß der Pietismus und Myſticismus und Separatis-
mus, der in andern Gegenden wuchert, im Hohenloh’ſchen
keinen Boden findet, wo er Wurzel faſſen kann. Der Ab-
bruch des Hauſes in Orlach iſt kein Beweis dafür, daß
ſich dieſes Dorf durch Aberglauben auszeichnet. Wenn der
aufgeklärteſte Kopf des achtzehnten Jahrhunderts, Fried-
rich der Große, das Pfarrhaus in dem Dorf Quarez bei
Glogau wegen Geiſterſpuk abbrechen und wieder neu bauen
ließ (wie mir die glaubwürdigſten Perſonen erzählten und
wie es in Schleſien allgemein bekannt ſeyn ſoll) ſo wird es
wohl Niemand den ſchlichten Bauersleuten in Orlach ver-
denken, wenn ſie daſſelbe thaten. Die Redaktion meint,
in Frankfurt hätte man das Haus nicht abgebrochen, ſon-
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[62/0076] ſchlechts, er iſt mit der Menſchheit zum Mannesalter ge- reift, und ſtirbt wohl erſt, ſo wie die Sünde, mit dem letzten Menſchen aus. Der Aberglaube iſt der Schlagſchat- ten unſeres Geſichtes; und ſo wie unſer Schatten immer unſere Geſtalt annimmt, ſo richtet ſich der Aberglaube in unzählig vielen Formen und Reflexen immer nach der in- dividuellen Denkungsweiſe und Bildungsſtufe der Menſchen. Er iſt materiell und grob-ſinnlich in den Hexen- und Ge- ſpenſtergeſchichten der Bauern, er iſt ſinnig, zart und ge- müthlich, wenn er in den äſthetiſchen Theeviſiten unſerer Damen verhandelt wird, er iſt gelehrt und ſchwülſtig in den Schriften unſerer Philoſophen, er iſt myſtiſch und fromm in der Dogmatik mancher Theologen. Unzählig viele Men- ſchen, die ſich ihrer Aufklärung rühmen, ſind abergläubiſch ohne es zu wiſſen und zu wollen, trotz ihrer Verſicherun- gen vom Gegentheil. Und obgleich wir damit nicht beſtrei- ten wollen, daß der Aberglaube in einigen Gegenden mehr als in andern herrſcht, ſo ſind doch gerade die Hohen- loher durch ihren heitern, leichtern Sinn, der überhaupt den Franken eigen iſt, weit weniger zum Aberglauben ge- neigt, als andere Völkerſtämme, was ſich auch daraus er- gibt, daß der Pietismus und Myſticismus und Separatis- mus, der in andern Gegenden wuchert, im Hohenloh’ſchen keinen Boden findet, wo er Wurzel faſſen kann. Der Ab- bruch des Hauſes in Orlach iſt kein Beweis dafür, daß ſich dieſes Dorf durch Aberglauben auszeichnet. Wenn der aufgeklärteſte Kopf des achtzehnten Jahrhunderts, Fried- rich der Große, das Pfarrhaus in dem Dorf Quarez bei Glogau wegen Geiſterſpuk abbrechen und wieder neu bauen ließ (wie mir die glaubwürdigſten Perſonen erzählten und wie es in Schleſien allgemein bekannt ſeyn ſoll) ſo wird es wohl Niemand den ſchlichten Bauersleuten in Orlach ver- denken, wenn ſie daſſelbe thaten. Die Redaktion meint, in Frankfurt hätte man das Haus nicht abgebrochen, ſon- dern über die Abſurdität gelacht und die Beſeſſene in ein Kranken- oder Irrenhaus gebracht. Das möchte ich be-

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Zitationshilfe: Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/76>, abgerufen am 27.11.2024.