1684. (In mehreren Schriften ist das Jahr 1685 irrig angegeben.)
Der genannten Dame erschien eine weiße Gestalt, ge- kleidet als eine Nonne, wie sie angab, ein ehemaliges Fräulein von Trebra. Diese Gestalt bat die Dame aufs inständigste, mit ihr zu gehen, um einen Schatz zu erhe- ben, indem sie ihr genau den Ort angab und ihr versprach, alle Schrecken dabei zu ersparen. Da die Dame auf wie- derholte Bitten sich beständig weigerte, so fing sie an, die- selbe zu plagen, so daß immer körperliche Spuren sichtbar waren. Täglich war diese Marterstunde von 5 bis 6 Uhr Abends, wo eine Menge Augenzeugen öfters anwesend wa- ren, die zwar das Leiden der Dame, aber die Thäterin nicht wahrnahmen. Nur ein Dienstmädchen und ein klei- nes Kind, das mit den Händen darauf hinwieß, sahen die gleiche Gestalt. Die Zufälle stiegen von den einfachen Schmerzen, die vom Kneipen herrührten, bis zu Convul- sionen, Ohnmachten und Bewußtlosigkeit. Auch die Ent- fernung vom Hause half nichts, die Dame wurde überall- hin verfolgt. Als die Geplagte einstmals in der Angst zu Gott betete, er möchte sie durch den Tod von ihrer Qual befreien, so erschien ihr, wie sie angab, der Erlöser in ver- klärter Gestalt mit der Anrede: "Sie werde noch Vieles erleiden, aber wegen der vielen Seufzer und Gebete den Ihrigen erhalten werden." Diese Anfechtungen dauerten über Ostern in doppelter Stärke fort, bis am Sonntag Quasimodogeniti der Abschied der Geistin erfolgte, indem sie sagte: "Weil sie (die Dame) bisher zu Nichts zu be- wegen gewesen, und beständig an ihrem Gott verbliebe, so wolle sie sie jetzt verlassen und von ihr weichen." Von dieser Stunde blieb die Dame frey, weßwegen auch in öf- fentlicher Kirchenversammlung ein Dankgebet abgehalten wurde.
Aus den acht vorliegenden Geschichten ergeben sich meh- rere allgemeine Sätze:
I. In allen ist der generische Charakter eine blos körper-
1684. (In mehreren Schriften iſt das Jahr 1685 irrig angegeben.)
Der genannten Dame erſchien eine weiße Geſtalt, ge- kleidet als eine Nonne, wie ſie angab, ein ehemaliges Fräulein von Trebra. Dieſe Geſtalt bat die Dame aufs inſtändigſte, mit ihr zu gehen, um einen Schatz zu erhe- ben, indem ſie ihr genau den Ort angab und ihr verſprach, alle Schrecken dabei zu erſparen. Da die Dame auf wie- derholte Bitten ſich beſtändig weigerte, ſo fing ſie an, die- ſelbe zu plagen, ſo daß immer körperliche Spuren ſichtbar waren. Täglich war dieſe Marterſtunde von 5 bis 6 Uhr Abends, wo eine Menge Augenzeugen öfters anweſend wa- ren, die zwar das Leiden der Dame, aber die Thäterin nicht wahrnahmen. Nur ein Dienſtmädchen und ein klei- nes Kind, das mit den Händen darauf hinwieß, ſahen die gleiche Geſtalt. Die Zufälle ſtiegen von den einfachen Schmerzen, die vom Kneipen herrührten, bis zu Convul- ſionen, Ohnmachten und Bewußtloſigkeit. Auch die Ent- fernung vom Hauſe half nichts, die Dame wurde überall- hin verfolgt. Als die Geplagte einſtmals in der Angſt zu Gott betete, er möchte ſie durch den Tod von ihrer Qual befreien, ſo erſchien ihr, wie ſie angab, der Erlöſer in ver- klärter Geſtalt mit der Anrede: „Sie werde noch Vieles erleiden, aber wegen der vielen Seufzer und Gebete den Ihrigen erhalten werden.“ Dieſe Anfechtungen dauerten über Oſtern in doppelter Stärke fort, bis am Sonntag Quaſimodogeniti der Abſchied der Geiſtin erfolgte, indem ſie ſagte: „Weil ſie (die Dame) bisher zu Nichts zu be- wegen geweſen, und beſtändig an ihrem Gott verbliebe, ſo wolle ſie ſie jetzt verlaſſen und von ihr weichen.“ Von dieſer Stunde blieb die Dame frey, weßwegen auch in öf- fentlicher Kirchenverſammlung ein Dankgebet abgehalten wurde.
Aus den acht vorliegenden Geſchichten ergeben ſich meh- rere allgemeine Sätze:
I. In allen iſt der generiſche Charakter eine blos körper-
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1684. (In mehreren Schriften iſt das Jahr 1685 irrig
angegeben.)
Der genannten Dame erſchien eine weiße Geſtalt, ge-
kleidet als eine Nonne, wie ſie angab, ein ehemaliges
Fräulein von Trebra. Dieſe Geſtalt bat die Dame aufs
inſtändigſte, mit ihr zu gehen, um einen Schatz zu erhe-
ben, indem ſie ihr genau den Ort angab und ihr verſprach,
alle Schrecken dabei zu erſparen. Da die Dame auf wie-
derholte Bitten ſich beſtändig weigerte, ſo fing ſie an, die-
ſelbe zu plagen, ſo daß immer körperliche Spuren ſichtbar
waren. Täglich war dieſe Marterſtunde von 5 bis 6 Uhr
Abends, wo eine Menge Augenzeugen öfters anweſend wa-
ren, die zwar das Leiden der Dame, aber die Thäterin
nicht wahrnahmen. Nur ein Dienſtmädchen und ein klei-
nes Kind, das mit den Händen darauf hinwieß, ſahen
die gleiche Geſtalt. Die Zufälle ſtiegen von den einfachen
Schmerzen, die vom Kneipen herrührten, bis zu Convul-
ſionen, Ohnmachten und Bewußtloſigkeit. Auch die Ent-
fernung vom Hauſe half nichts, die Dame wurde überall-
hin verfolgt. Als die Geplagte einſtmals in der Angſt zu
Gott betete, er möchte ſie durch den Tod von ihrer Qual
befreien, ſo erſchien ihr, wie ſie angab, der Erlöſer in ver-
klärter Geſtalt mit der Anrede: „Sie werde noch Vieles
erleiden, aber wegen der vielen Seufzer und Gebete den
Ihrigen erhalten werden.“ Dieſe Anfechtungen dauerten
über Oſtern in doppelter Stärke fort, bis am Sonntag
Quaſimodogeniti der Abſchied der Geiſtin erfolgte, indem
ſie ſagte: „Weil ſie (die Dame) bisher zu Nichts zu be-
wegen geweſen, und beſtändig an ihrem Gott verbliebe,
ſo wolle ſie ſie jetzt verlaſſen und von ihr weichen.“ Von
dieſer Stunde blieb die Dame frey, weßwegen auch in öf-
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wurde.
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/154>, abgerufen am 06.07.2024.
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