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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Nach beendigter Mahlzeit und als auch der Kaffe ge¬
nommen war, schlug unser Gast vor, einen Spaziergang
in das Freie zu machen. Er werde am nächsten Morgen
wieder abreisen, sagte er, und wisse nicht, ob er so bald
wieder komme.

Mit schrecklicher Beklemmung hörte ich diese An¬
kündigung; kein größeres Unglück schien es mir in der
Welt zu geben, als die abermalige unerwartete Trennung.
Allein kaum eine halbe Stunde später fühlte ich mich
noch zehnmal unglücklicher. Wir gingen durch ein ver¬
nachlässigtes Lustwäldchen, dessen schmale holperige Wege
sich an einem Hügel im Stadtforste verloren. Leodegar
hatte der Erzieherin den Arm gegeben, den sie nun nicht
mehr fahren ließ, so daß ich genöthigt war, wie ein
Hündchen hinter dem Paare drein zu laufen. Sie
achteten nicht einmal darauf, und ich befand mich in
meiner fünfzehnjährigen Nichtsnutzigkeit so elend, daß ich
zu weinen anfing und mit dem Schnupftuch den Mund
verstopfen mußte, um das Schluchzen und Stöhnen nicht
laut werden zu lassen. Das paßte nicht gut zu meinem
modischen Anzuge, den ich demjenigen erwachsener Damen
so ähnlich als möglich gemacht hatte.

Plötzlich aber gab es eine Wendung der Dinge.
Fräulein Hansa zog das Fläschchen mit Spiritus, das
sie stets bei sich trug, aus der Tasche und that einen
Sprung unter die Bäume, wo sie die langen Fühlhörner
eines Käfers aus einer bemoosten Rinde hervorstehen

Nach beendigter Mahlzeit und als auch der Kaffe ge¬
nommen war, ſchlug unſer Gaſt vor, einen Spaziergang
in das Freie zu machen. Er werde am nächſten Morgen
wieder abreiſen, ſagte er, und wiſſe nicht, ob er ſo bald
wieder komme.

Mit ſchrecklicher Beklemmung hörte ich dieſe An¬
kündigung; kein größeres Unglück ſchien es mir in der
Welt zu geben, als die abermalige unerwartete Trennung.
Allein kaum eine halbe Stunde ſpäter fühlte ich mich
noch zehnmal unglücklicher. Wir gingen durch ein ver¬
nachläſſigtes Luſtwäldchen, deſſen ſchmale holperige Wege
ſich an einem Hügel im Stadtforſte verloren. Leodegar
hatte der Erzieherin den Arm gegeben, den ſie nun nicht
mehr fahren ließ, ſo daß ich genöthigt war, wie ein
Hündchen hinter dem Paare drein zu laufen. Sie
achteten nicht einmal darauf, und ich befand mich in
meiner fünfzehnjährigen Nichtsnutzigkeit ſo elend, daß ich
zu weinen anfing und mit dem Schnupftuch den Mund
verſtopfen mußte, um das Schluchzen und Stöhnen nicht
laut werden zu laſſen. Das paßte nicht gut zu meinem
modiſchen Anzuge, den ich demjenigen erwachſener Damen
ſo ähnlich als möglich gemacht hatte.

Plötzlich aber gab es eine Wendung der Dinge.
Fräulein Hanſa zog das Fläſchchen mit Spiritus, das
ſie ſtets bei ſich trug, aus der Taſche und that einen
Sprung unter die Bäume, wo ſie die langen Fühlhörner
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[388/0398] Nach beendigter Mahlzeit und als auch der Kaffe ge¬ nommen war, ſchlug unſer Gaſt vor, einen Spaziergang in das Freie zu machen. Er werde am nächſten Morgen wieder abreiſen, ſagte er, und wiſſe nicht, ob er ſo bald wieder komme. Mit ſchrecklicher Beklemmung hörte ich dieſe An¬ kündigung; kein größeres Unglück ſchien es mir in der Welt zu geben, als die abermalige unerwartete Trennung. Allein kaum eine halbe Stunde ſpäter fühlte ich mich noch zehnmal unglücklicher. Wir gingen durch ein ver¬ nachläſſigtes Luſtwäldchen, deſſen ſchmale holperige Wege ſich an einem Hügel im Stadtforſte verloren. Leodegar hatte der Erzieherin den Arm gegeben, den ſie nun nicht mehr fahren ließ, ſo daß ich genöthigt war, wie ein Hündchen hinter dem Paare drein zu laufen. Sie achteten nicht einmal darauf, und ich befand mich in meiner fünfzehnjährigen Nichtsnutzigkeit ſo elend, daß ich zu weinen anfing und mit dem Schnupftuch den Mund verſtopfen mußte, um das Schluchzen und Stöhnen nicht laut werden zu laſſen. Das paßte nicht gut zu meinem modiſchen Anzuge, den ich demjenigen erwachſener Damen ſo ähnlich als möglich gemacht hatte. Plötzlich aber gab es eine Wendung der Dinge. Fräulein Hanſa zog das Fläſchchen mit Spiritus, das ſie ſtets bei ſich trug, aus der Taſche und that einen Sprung unter die Bäume, wo ſie die langen Fühlhörner eines Käfers aus einer bemooſten Rinde hervorſtehen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/398>, abgerufen am 24.11.2024.