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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Ungefähr anderthalb Meilen unterhalb unserer Stadt
ragte am gegenüber liegenden Ufer, wo die Menschheit
katholisch ist, das besagte Kloster idyllisch aus dem Wasser
in ländlicher Einfachheit und nur von seinen Obstbäumen,
Wiesen und Feldern umgeben.

Da die Besuche meiner Mutter meistens auf eines
der heitern Kirchenfeste in schöner Jahreszeit verlegt
wurden, wie z. B. auf Fronleichnamstag, wo die Stifts¬
frauen sich eine gewisse Fröhlichkeit, ein bescheidenes
Wohlleben gönnten, so machte die Mama sich die Freude
noch dadurch feierlicher, daß sie sich auf dem blau glänzenden
Flusse hinunter fahren ließ und meine Person im frühsten
Kindesalter mitnahm. Sie putzte mich dann zierlich und
hellfarbig heraus, damit ich den guten Nonnen in ihrer
dunklen Tracht und Abgeschiedenheit den Sommertag hin¬
durch als eine Art lebendiger Puppe dienen konnte, mit
welcher sie spielten, und die Mama empfand das schönste
Vergnügen, mich von Hand zu Hand, von Schoß zu
Schoß gehen zu sehen. Als ich jedoch etwas größer
wurde, hielt ich mich selbst so ernst und still wie ein
Nönnchen und war stolz darauf, die beiden Freundinnen
nicht zu verlassen, wenn sie unter traulichen Gesprächen
und Erinnerungen in der Zelle am Fenster standen oder
einen Gang durch die blühenden Gärten und Felder
machten. Bei der festlichen Tafel jedoch mußte ich neben
der Frau Priorin sitzen, die mir ab und zu wohlwollend
die Hand streichelte und mich niemals entließ, ohne mir

Ungefähr anderthalb Meilen unterhalb unſerer Stadt
ragte am gegenüber liegenden Ufer, wo die Menſchheit
katholiſch iſt, das beſagte Kloſter idylliſch aus dem Waſſer
in ländlicher Einfachheit und nur von ſeinen Obſtbäumen,
Wieſen und Feldern umgeben.

Da die Beſuche meiner Mutter meiſtens auf eines
der heitern Kirchenfeſte in ſchöner Jahreszeit verlegt
wurden, wie z. B. auf Fronleichnamstag, wo die Stifts¬
frauen ſich eine gewiſſe Fröhlichkeit, ein beſcheidenes
Wohlleben gönnten, ſo machte die Mama ſich die Freude
noch dadurch feierlicher, daß ſie ſich auf dem blau glänzenden
Fluſſe hinunter fahren ließ und meine Perſon im frühſten
Kindesalter mitnahm. Sie putzte mich dann zierlich und
hellfarbig heraus, damit ich den guten Nonnen in ihrer
dunklen Tracht und Abgeſchiedenheit den Sommertag hin¬
durch als eine Art lebendiger Puppe dienen konnte, mit
welcher ſie ſpielten, und die Mama empfand das ſchönſte
Vergnügen, mich von Hand zu Hand, von Schoß zu
Schoß gehen zu ſehen. Als ich jedoch etwas größer
wurde, hielt ich mich ſelbſt ſo ernſt und ſtill wie ein
Nönnchen und war ſtolz darauf, die beiden Freundinnen
nicht zu verlaſſen, wenn ſie unter traulichen Geſprächen
und Erinnerungen in der Zelle am Fenſter ſtanden oder
einen Gang durch die blühenden Gärten und Felder
machten. Bei der feſtlichen Tafel jedoch mußte ich neben
der Frau Priorin ſitzen, die mir ab und zu wohlwollend
die Hand ſtreichelte und mich niemals entließ, ohne mir

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[380/0390] Ungefähr anderthalb Meilen unterhalb unſerer Stadt ragte am gegenüber liegenden Ufer, wo die Menſchheit katholiſch iſt, das beſagte Kloſter idylliſch aus dem Waſſer in ländlicher Einfachheit und nur von ſeinen Obſtbäumen, Wieſen und Feldern umgeben. Da die Beſuche meiner Mutter meiſtens auf eines der heitern Kirchenfeſte in ſchöner Jahreszeit verlegt wurden, wie z. B. auf Fronleichnamstag, wo die Stifts¬ frauen ſich eine gewiſſe Fröhlichkeit, ein beſcheidenes Wohlleben gönnten, ſo machte die Mama ſich die Freude noch dadurch feierlicher, daß ſie ſich auf dem blau glänzenden Fluſſe hinunter fahren ließ und meine Perſon im frühſten Kindesalter mitnahm. Sie putzte mich dann zierlich und hellfarbig heraus, damit ich den guten Nonnen in ihrer dunklen Tracht und Abgeſchiedenheit den Sommertag hin¬ durch als eine Art lebendiger Puppe dienen konnte, mit welcher ſie ſpielten, und die Mama empfand das ſchönſte Vergnügen, mich von Hand zu Hand, von Schoß zu Schoß gehen zu ſehen. Als ich jedoch etwas größer wurde, hielt ich mich ſelbſt ſo ernſt und ſtill wie ein Nönnchen und war ſtolz darauf, die beiden Freundinnen nicht zu verlaſſen, wenn ſie unter traulichen Geſprächen und Erinnerungen in der Zelle am Fenſter ſtanden oder einen Gang durch die blühenden Gärten und Felder machten. Bei der feſtlichen Tafel jedoch mußte ich neben der Frau Priorin ſitzen, die mir ab und zu wohlwollend die Hand ſtreichelte und mich niemals entließ, ohne mir

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/390>, abgerufen am 25.11.2024.