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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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"Was wollen Sie lesen?" fragte Lucie.

"Darf ich eines von Ihren Lebensbüchern nehmen?"
erwiderte Reinhart; "ich habe bemerkt, daß hin und wieder
etwas an den Rand geschrieben ist, und nun empfinde ich
ein Gelüste, diesen Spuren nachzugehen und Ihre guten
Gedanken zu haschen. Vielleicht, wenn es überhaupt er¬
laubt wird, entdecke ich das Geheimniß, welches Sie in
den Offenbarungen anzieht!"

"Das Geheimniß ist ein sehr einfaches," versetzte Lucie,
"und doch ist es allerdings eines. Ich suche die Sprache
der Menschen zu verstehen, wenn sie von sich selbst reden;
aber es kommt mir zuweilen vor, wie wenn ich durch
einen Wald ginge und das Gezwitscher der Vögel hörte,
ohne ihrer Sprache kundig zu sein. Manchmal scheint
mir, daß Jeder etwas anderes sagt, als er denkt, oder
wenigstens nicht recht sagen kann, was er denkt, und daß
dieses sein Schicksal sei. Was der Eine mit lautem Ge¬
zwitscher kundgibt, verschweigt der Andere sorgfältig, und
umgekehrt. Der bekennt alle sieben Todsünden und ver¬
heimlicht, daß er an der linken Hand nur vier Finger hat.
Jener zählt und beschreibt mittelst einer doppelten Selbst¬
bespiegelung alle Leberflecken und Muttermälchen seines
Rückens; allein daß ein falsches Zeugniß, das er einst
aus Charakterschwäche oder Parteilichkeit abgelegt, sein
Gewissen drückt, verschweigt er wie ein Grab. Wenn ich
sie nun alle so mit einander vergleiche in ihrer Aufrichtig¬
keit, die sie für kristallklar halten, so frage ich mich, gibt

„Was wollen Sie leſen?“ fragte Lucie.

„Darf ich eines von Ihren Lebensbüchern nehmen?“
erwiderte Reinhart; „ich habe bemerkt, daß hin und wieder
etwas an den Rand geſchrieben iſt, und nun empfinde ich
ein Gelüſte, dieſen Spuren nachzugehen und Ihre guten
Gedanken zu haſchen. Vielleicht, wenn es überhaupt er¬
laubt wird, entdecke ich das Geheimniß, welches Sie in
den Offenbarungen anzieht!“

„Das Geheimniß iſt ein ſehr einfaches,“ verſetzte Lucie,
„und doch iſt es allerdings eines. Ich ſuche die Sprache
der Menſchen zu verſtehen, wenn ſie von ſich ſelbſt reden;
aber es kommt mir zuweilen vor, wie wenn ich durch
einen Wald ginge und das Gezwitſcher der Vögel hörte,
ohne ihrer Sprache kundig zu ſein. Manchmal ſcheint
mir, daß Jeder etwas anderes ſagt, als er denkt, oder
wenigſtens nicht recht ſagen kann, was er denkt, und daß
dieſes ſein Schickſal ſei. Was der Eine mit lautem Ge¬
zwitſcher kundgibt, verſchweigt der Andere ſorgfältig, und
umgekehrt. Der bekennt alle ſieben Todſünden und ver¬
heimlicht, daß er an der linken Hand nur vier Finger hat.
Jener zählt und beſchreibt mittelſt einer doppelten Selbſt¬
beſpiegelung alle Leberflecken und Muttermälchen ſeines
Rückens; allein daß ein falſches Zeugniß, das er einſt
aus Charakterſchwäche oder Parteilichkeit abgelegt, ſein
Gewiſſen drückt, verſchweigt er wie ein Grab. Wenn ich
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keit, die ſie für kriſtallklar halten, ſo frage ich mich, gibt

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[375/0385] „Was wollen Sie leſen?“ fragte Lucie. „Darf ich eines von Ihren Lebensbüchern nehmen?“ erwiderte Reinhart; „ich habe bemerkt, daß hin und wieder etwas an den Rand geſchrieben iſt, und nun empfinde ich ein Gelüſte, dieſen Spuren nachzugehen und Ihre guten Gedanken zu haſchen. Vielleicht, wenn es überhaupt er¬ laubt wird, entdecke ich das Geheimniß, welches Sie in den Offenbarungen anzieht!“ „Das Geheimniß iſt ein ſehr einfaches,“ verſetzte Lucie, „und doch iſt es allerdings eines. Ich ſuche die Sprache der Menſchen zu verſtehen, wenn ſie von ſich ſelbſt reden; aber es kommt mir zuweilen vor, wie wenn ich durch einen Wald ginge und das Gezwitſcher der Vögel hörte, ohne ihrer Sprache kundig zu ſein. Manchmal ſcheint mir, daß Jeder etwas anderes ſagt, als er denkt, oder wenigſtens nicht recht ſagen kann, was er denkt, und daß dieſes ſein Schickſal ſei. Was der Eine mit lautem Ge¬ zwitſcher kundgibt, verſchweigt der Andere ſorgfältig, und umgekehrt. Der bekennt alle ſieben Todſünden und ver¬ heimlicht, daß er an der linken Hand nur vier Finger hat. Jener zählt und beſchreibt mittelſt einer doppelten Selbſt¬ beſpiegelung alle Leberflecken und Muttermälchen ſeines Rückens; allein daß ein falſches Zeugniß, das er einſt aus Charakterſchwäche oder Parteilichkeit abgelegt, ſein Gewiſſen drückt, verſchweigt er wie ein Grab. Wenn ich ſie nun alle ſo mit einander vergleiche in ihrer Aufrichtig¬ keit, die ſie für kriſtallklar halten, ſo frage ich mich, gibt

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/385>, abgerufen am 22.11.2024.