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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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unter welchen sie ein solches Andenken habe verlieren
können, gab sie eine unglückliche Antwort, in der die
Reue sich hinter beleidigtem Stolze verbarg. Die Ver¬
lobung löste sich auf; der Bräutigam heirathete eine
andere Person, und die Guillemette blieb arm und verlassen
mitten in der Welt sitzen.

Thibaut, der inzwischen Lieutenant geworden, trug
nun das Herz an seiner Uhrkette und sah schon lange
nach einem neuen Gehängsel aus, das er jenem beigesellen
konnte. So gewahrte er denn einstmals die kleine Denise,
das Töchterlein des seligen Notars Jakob Martin, das
eben aus der Klosterschule gekommen und nun bei der
Mutter lebte. Er wunderte sich, wie artig das Mädchen
ausgewachsen war und auf den rothen Stöckelschuhen
daherging. Auf der Brust trug es ein bescheidenes Herz
von Bergkrystall, das, in Gold gefaßt, auch geöffnet
werden konnte; aber es war nichts darin und das Herz
ganz durchsichtig. Dennoch faßte er sogleich den Plan,
dasselbe zu erobern, als er so stehen blieb und dem
Mädchen nachschaute, das mit blutrothem Gesichte davon
eilte. Er spazierte täglich an ihrem Hause vorüber, sandte
ihr verliebte Gedichtchen zu, die er den Poesieen des
Mr. Dorat, der Frau Marquise d'Antremont oder des
Herrn Marquis de Pezai und anderen Dichtern der
damaligen Zeit entlehnte, aber ohne Unterschrift ließ.
Es gelang ihm dadurch, den Kopf der jungen Denise und
ihrer Mutter zugleich in Verwirrung zu setzen, so daß er

unter welchen ſie ein ſolches Andenken habe verlieren
können, gab ſie eine unglückliche Antwort, in der die
Reue ſich hinter beleidigtem Stolze verbarg. Die Ver¬
lobung löſte ſich auf; der Bräutigam heirathete eine
andere Perſon, und die Guillemette blieb arm und verlaſſen
mitten in der Welt ſitzen.

Thibaut, der inzwiſchen Lieutenant geworden, trug
nun das Herz an ſeiner Uhrkette und ſah ſchon lange
nach einem neuen Gehängſel aus, das er jenem beigeſellen
konnte. So gewahrte er denn einſtmals die kleine Deniſe,
das Töchterlein des ſeligen Notars Jakob Martin, das
eben aus der Kloſterſchule gekommen und nun bei der
Mutter lebte. Er wunderte ſich, wie artig das Mädchen
ausgewachſen war und auf den rothen Stöckelſchuhen
daherging. Auf der Bruſt trug es ein beſcheidenes Herz
von Bergkryſtall, das, in Gold gefaßt, auch geöffnet
werden konnte; aber es war nichts darin und das Herz
ganz durchſichtig. Dennoch faßte er ſogleich den Plan,
dasſelbe zu erobern, als er ſo ſtehen blieb und dem
Mädchen nachſchaute, das mit blutrothem Geſichte davon
eilte. Er ſpazierte täglich an ihrem Hauſe vorüber, ſandte
ihr verliebte Gedichtchen zu, die er den Poeſieen des
Mr. Dorat, der Frau Marquiſe d'Antremont oder des
Herrn Marquis de Pezai und anderen Dichtern der
damaligen Zeit entlehnte, aber ohne Unterſchrift ließ.
Es gelang ihm dadurch, den Kopf der jungen Deniſe und
ihrer Mutter zugleich in Verwirrung zu ſetzen, ſo daß er

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[352/0362] unter welchen ſie ein ſolches Andenken habe verlieren können, gab ſie eine unglückliche Antwort, in der die Reue ſich hinter beleidigtem Stolze verbarg. Die Ver¬ lobung löſte ſich auf; der Bräutigam heirathete eine andere Perſon, und die Guillemette blieb arm und verlaſſen mitten in der Welt ſitzen. Thibaut, der inzwiſchen Lieutenant geworden, trug nun das Herz an ſeiner Uhrkette und ſah ſchon lange nach einem neuen Gehängſel aus, das er jenem beigeſellen konnte. So gewahrte er denn einſtmals die kleine Deniſe, das Töchterlein des ſeligen Notars Jakob Martin, das eben aus der Kloſterſchule gekommen und nun bei der Mutter lebte. Er wunderte ſich, wie artig das Mädchen ausgewachſen war und auf den rothen Stöckelſchuhen daherging. Auf der Bruſt trug es ein beſcheidenes Herz von Bergkryſtall, das, in Gold gefaßt, auch geöffnet werden konnte; aber es war nichts darin und das Herz ganz durchſichtig. Dennoch faßte er ſogleich den Plan, dasſelbe zu erobern, als er ſo ſtehen blieb und dem Mädchen nachſchaute, das mit blutrothem Geſichte davon eilte. Er ſpazierte täglich an ihrem Hauſe vorüber, ſandte ihr verliebte Gedichtchen zu, die er den Poeſieen des Mr. Dorat, der Frau Marquiſe d'Antremont oder des Herrn Marquis de Pezai und anderen Dichtern der damaligen Zeit entlehnte, aber ohne Unterſchrift ließ. Es gelang ihm dadurch, den Kopf der jungen Deniſe und ihrer Mutter zugleich in Verwirrung zu ſetzen, ſo daß er

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/362>, abgerufen am 22.11.2024.