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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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allein er hielt sie fest und lispelte ihr zu, wenn sie sich
widersetze, so würde er das Geheimniß von der Gießkanne
unter die Leute bringen, und dann sei sie für immer im
Gerede. Zitternd stand sie still, und als er sie nun um¬
armte, erhob sie sich sogar auf die Zehen und küßte ihn
mit geschlossenen Augen, über und über mit Roth
begossen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr so ernst und
andächtig, als ob sie das Abendmahl nähme. Reinhart
dachte, sie sei zu sehr erschrocken, und hielt sie ein kleines
Weilchen im Arm, worauf er sie zum zweiten Male küßte.
Aber ebenso ernsthaft wie vorhin küßte sie ihn wieder
und ward noch viel röther; dann floh sie wie ein Blitz
davon.

Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr
heiter entgegen und zeigte ihm sein Tagebuch, in welchem
sein Besuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt
war, und die Pfarrfrau sagte: "Auch ich habe einige
Zeilen in meine Gedenkblätter geschrieben, lieber Reinhart,
damit uns Ihre Begegnung ja recht frisch im Gedächtnisse
bleibe!"

Er verabschiedete sich aufs freundlichste von den
Leuten, ohne daß sich die Tochter wieder sehen ließ.

Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom
Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das
Kunststück, je schwieriger es zu sein scheint!

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allein er hielt ſie feſt und lispelte ihr zu, wenn ſie ſich
widerſetze, ſo würde er das Geheimniß von der Gießkanne
unter die Leute bringen, und dann ſei ſie für immer im
Gerede. Zitternd ſtand ſie ſtill, und als er ſie nun um¬
armte, erhob ſie ſich ſogar auf die Zehen und küßte ihn
mit geſchloſſenen Augen, über und über mit Roth
begoſſen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr ſo ernſt und
andächtig, als ob ſie das Abendmahl nähme. Reinhart
dachte, ſie ſei zu ſehr erſchrocken, und hielt ſie ein kleines
Weilchen im Arm, worauf er ſie zum zweiten Male küßte.
Aber ebenſo ernſthaft wie vorhin küßte ſie ihn wieder
und ward noch viel röther; dann floh ſie wie ein Blitz
davon.

Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr
heiter entgegen und zeigte ihm ſein Tagebuch, in welchem
ſein Beſuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt
war, und die Pfarrfrau ſagte: „Auch ich habe einige
Zeilen in meine Gedenkblätter geſchrieben, lieber Reinhart,
damit uns Ihre Begegnung ja recht friſch im Gedächtniſſe
bleibe!“

Er verabſchiedete ſich aufs freundlichſte von den
Leuten, ohne daß ſich die Tochter wieder ſehen ließ.

Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom
Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das
Kunſtſtück, je ſchwieriger es zu ſein ſcheint!

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[19/0029] allein er hielt ſie feſt und lispelte ihr zu, wenn ſie ſich widerſetze, ſo würde er das Geheimniß von der Gießkanne unter die Leute bringen, und dann ſei ſie für immer im Gerede. Zitternd ſtand ſie ſtill, und als er ſie nun um¬ armte, erhob ſie ſich ſogar auf die Zehen und küßte ihn mit geſchloſſenen Augen, über und über mit Roth begoſſen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr ſo ernſt und andächtig, als ob ſie das Abendmahl nähme. Reinhart dachte, ſie ſei zu ſehr erſchrocken, und hielt ſie ein kleines Weilchen im Arm, worauf er ſie zum zweiten Male küßte. Aber ebenſo ernſthaft wie vorhin küßte ſie ihn wieder und ward noch viel röther; dann floh ſie wie ein Blitz davon. Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr heiter entgegen und zeigte ihm ſein Tagebuch, in welchem ſein Beſuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt war, und die Pfarrfrau ſagte: „Auch ich habe einige Zeilen in meine Gedenkblätter geſchrieben, lieber Reinhart, damit uns Ihre Begegnung ja recht friſch im Gedächtniſſe bleibe!“ Er verabſchiedete ſich aufs freundlichſte von den Leuten, ohne daß ſich die Tochter wieder ſehen ließ. Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das Kunſtſtück, je ſchwieriger es zu ſein ſcheint! [Abbildung] 2*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/29>, abgerufen am 22.11.2024.