stand schon eine Stelle in einem kaiserlichen Dragoner¬ regimente offen; Mannelin wollte als bescheidener Fu߬ gänger in die preußische Infanterie treten, und Beide rüsteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber nochmals im Bankierhause speisen und wurden mit aller Freundschaft behandelt. Der Ernst jener Tage hinderte nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit und Scherz wieder aufblühten, und so wurde denn, als man auf das Wohl der scheidenden jungen Krieger trank, die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen von uns sie am unliebsten verliere?
"Das weiß ich wahrhaftig selber nicht!" rief sie; "erst war mir der Kanzler lieber; seit aber in seinem Umgange der wilde Marschall so gesittet und liebenswürdig geworden ist, verliere ich diesen auch ungern! Und doch ist es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die Quelle der Besserung ist, es büßen soll! Mag mir der Himmel helfen!"
Sie verbarg auf das Artigste die Wehmuth des Ab¬ schiedes hinter der Miene einer komischen Verlegenheit, ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬ tisches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte. Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verschlang sie sogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin dagegen behielt die seinige in der Hand und spielte scheinbar damit, bis er sie unbeachtet in die Tasche schieben konnte.
Keller, Sinngedicht. 15
ſtand ſchon eine Stelle in einem kaiſerlichen Dragoner¬ regimente offen; Mannelin wollte als beſcheidener Fu߬ gänger in die preußiſche Infanterie treten, und Beide rüſteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber nochmals im Bankierhauſe ſpeiſen und wurden mit aller Freundſchaft behandelt. Der Ernſt jener Tage hinderte nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit und Scherz wieder aufblühten, und ſo wurde denn, als man auf das Wohl der ſcheidenden jungen Krieger trank, die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen von uns ſie am unliebſten verliere?
„Das weiß ich wahrhaftig ſelber nicht!“ rief ſie; „erſt war mir der Kanzler lieber; ſeit aber in ſeinem Umgange der wilde Marſchall ſo geſittet und liebenswürdig geworden iſt, verliere ich dieſen auch ungern! Und doch iſt es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die Quelle der Beſſerung iſt, es büßen ſoll! Mag mir der Himmel helfen!“
Sie verbarg auf das Artigſte die Wehmuth des Ab¬ ſchiedes hinter der Miene einer komiſchen Verlegenheit, ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬ tiſches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte. Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verſchlang ſie ſogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin dagegen behielt die ſeinige in der Hand und ſpielte ſcheinbar damit, bis er ſie unbeachtet in die Taſche ſchieben konnte.
Keller, Sinngedicht. 15
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0235"n="225"/>ſtand ſchon eine Stelle in einem kaiſerlichen Dragoner¬<lb/>
regimente offen; Mannelin wollte als beſcheidener Fu߬<lb/>
gänger in die preußiſche Infanterie treten, und Beide<lb/>
rüſteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber<lb/>
nochmals im Bankierhauſe ſpeiſen und wurden mit aller<lb/>
Freundſchaft behandelt. Der Ernſt jener Tage hinderte<lb/>
nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit<lb/>
und Scherz wieder aufblühten, und ſo wurde denn, als<lb/>
man auf das Wohl der ſcheidenden jungen Krieger trank,<lb/>
die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen<lb/>
von uns ſie am unliebſten verliere?</p><lb/><p>„Das weiß ich wahrhaftig ſelber nicht!“ rief ſie;<lb/>„erſt war mir der Kanzler lieber; ſeit aber in ſeinem<lb/>
Umgange der wilde Marſchall ſo geſittet und liebenswürdig<lb/>
geworden iſt, verliere ich dieſen auch ungern! Und doch<lb/>
iſt es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die<lb/>
Quelle der Beſſerung iſt, es büßen ſoll! Mag mir der<lb/>
Himmel helfen!“</p><lb/><p>Sie verbarg auf das Artigſte die Wehmuth des Ab¬<lb/>ſchiedes hinter der Miene einer komiſchen Verlegenheit,<lb/>
ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬<lb/>
tiſches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte.<lb/>
Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verſchlang<lb/>ſie ſogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin<lb/>
dagegen behielt die ſeinige in der Hand und ſpielte<lb/>ſcheinbar damit, bis er ſie unbeachtet in die Taſche<lb/>ſchieben konnte.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Keller</hi>, Sinngedicht. 15<lb/></fw></div></div></body></text></TEI>
[225/0235]
ſtand ſchon eine Stelle in einem kaiſerlichen Dragoner¬
regimente offen; Mannelin wollte als beſcheidener Fu߬
gänger in die preußiſche Infanterie treten, und Beide
rüſteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber
nochmals im Bankierhauſe ſpeiſen und wurden mit aller
Freundſchaft behandelt. Der Ernſt jener Tage hinderte
nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit
und Scherz wieder aufblühten, und ſo wurde denn, als
man auf das Wohl der ſcheidenden jungen Krieger trank,
die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen
von uns ſie am unliebſten verliere?
„Das weiß ich wahrhaftig ſelber nicht!“ rief ſie;
„erſt war mir der Kanzler lieber; ſeit aber in ſeinem
Umgange der wilde Marſchall ſo geſittet und liebenswürdig
geworden iſt, verliere ich dieſen auch ungern! Und doch
iſt es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die
Quelle der Beſſerung iſt, es büßen ſoll! Mag mir der
Himmel helfen!“
Sie verbarg auf das Artigſte die Wehmuth des Ab¬
ſchiedes hinter der Miene einer komiſchen Verlegenheit,
ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬
tiſches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte.
Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verſchlang
ſie ſogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin
dagegen behielt die ſeinige in der Hand und ſpielte
ſcheinbar damit, bis er ſie unbeachtet in die Taſche
ſchieben konnte.
Keller, Sinngedicht. 15
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/235>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.