Nach aufgehobener Tafel wurde ein Spaziergang durch den Garten gemacht, soweit die Wege in der frühen Jahreszeit gangbar waren; denn wir befanden uns in den ersten Monaten des Jahres 1813. Ich weiß nicht wie es kam, daß wir uns mit dem Mädchen bald von den übrigen Gästen entfernten und ihr zu beiden Seiten gingen. Wir fühlten uns jetzt ernster und zugleich leidenschaftlicher gestimmt, als früher, da wir uns der Tiefe unserer Neigung zu dem schönen Wesen deutlicher bewußt wurden; nur die Ungewißheit der Zukunft und die voraussichtliche Dauer und Gefährlichkeit des bevorstehenden oder vielmehr schon begonnenen Krieges mochten verhüten, daß sich die zwischen uns Beiden bisanher waltende gleichmüthige Freundschaft trübte.
Hildeburg merkte wol an unserem stillen Wesen und an der Natur unserer Athemzüge, was uns bewegte, und sie selbst wurde fühlbar erregter. Als wir unversehens vor einem Pavillon anlangten, stieß sie die Thüre auf, ging hinein und öffnete die vom Winter her noch ver¬ schlossenen Fensterläden, indem sie uns rasch mit einem Blicke überflog. Wir folgten ihr in den kleinen Saal und sie wandte sich uns zu.
"Ich bin in allem Ernste in einer so traurigen Lage, wie noch nie ein Mädchen gewesen ist; denn ich habe Euch Beide lieb und kann es nicht auseinander lösen. Du, Marschall, hast mein halbes Herz verschlungen; das ist thöricht, aber es verführt mich; und Du, Kanzler,
Nach aufgehobener Tafel wurde ein Spaziergang durch den Garten gemacht, ſoweit die Wege in der frühen Jahreszeit gangbar waren; denn wir befanden uns in den erſten Monaten des Jahres 1813. Ich weiß nicht wie es kam, daß wir uns mit dem Mädchen bald von den übrigen Gäſten entfernten und ihr zu beiden Seiten gingen. Wir fühlten uns jetzt ernſter und zugleich leidenſchaftlicher geſtimmt, als früher, da wir uns der Tiefe unſerer Neigung zu dem ſchönen Weſen deutlicher bewußt wurden; nur die Ungewißheit der Zukunft und die vorausſichtliche Dauer und Gefährlichkeit des bevorſtehenden oder vielmehr ſchon begonnenen Krieges mochten verhüten, daß ſich die zwiſchen uns Beiden bisanher waltende gleichmüthige Freundſchaft trübte.
Hildeburg merkte wol an unſerem ſtillen Weſen und an der Natur unſerer Athemzüge, was uns bewegte, und ſie ſelbſt wurde fühlbar erregter. Als wir unverſehens vor einem Pavillon anlangten, ſtieß ſie die Thüre auf, ging hinein und öffnete die vom Winter her noch ver¬ ſchloſſenen Fenſterläden, indem ſie uns raſch mit einem Blicke überflog. Wir folgten ihr in den kleinen Saal und ſie wandte ſich uns zu.
„Ich bin in allem Ernſte in einer ſo traurigen Lage, wie noch nie ein Mädchen geweſen iſt; denn ich habe Euch Beide lieb und kann es nicht auseinander löſen. Du, Marſchall, haſt mein halbes Herz verſchlungen; das iſt thöricht, aber es verführt mich; und Du, Kanzler,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0236"n="226"/><p>Nach aufgehobener Tafel wurde ein Spaziergang<lb/>
durch den Garten gemacht, ſoweit die Wege in der frühen<lb/>
Jahreszeit gangbar waren; denn wir befanden uns in<lb/>
den erſten Monaten des Jahres 1813. Ich weiß nicht<lb/>
wie es kam, daß wir uns mit dem Mädchen bald von den<lb/>
übrigen Gäſten entfernten und ihr zu beiden Seiten gingen.<lb/>
Wir fühlten uns jetzt ernſter und zugleich leidenſchaftlicher<lb/>
geſtimmt, als früher, da wir uns der Tiefe unſerer<lb/>
Neigung zu dem ſchönen Weſen deutlicher bewußt wurden;<lb/>
nur die Ungewißheit der Zukunft und die vorausſichtliche<lb/>
Dauer und Gefährlichkeit des bevorſtehenden oder vielmehr<lb/>ſchon begonnenen Krieges mochten verhüten, daß ſich die<lb/>
zwiſchen uns Beiden bisanher waltende gleichmüthige<lb/>
Freundſchaft trübte.</p><lb/><p>Hildeburg merkte wol an unſerem ſtillen Weſen und<lb/>
an der Natur unſerer Athemzüge, was uns bewegte, und<lb/>ſie ſelbſt wurde fühlbar erregter. Als wir unverſehens<lb/>
vor einem Pavillon anlangten, ſtieß ſie die Thüre auf,<lb/>
ging hinein und öffnete die vom Winter her noch ver¬<lb/>ſchloſſenen Fenſterläden, indem ſie uns raſch mit einem<lb/>
Blicke überflog. Wir folgten ihr in den kleinen Saal<lb/>
und ſie wandte ſich uns zu.</p><lb/><p>„Ich bin in allem Ernſte in einer ſo traurigen Lage,<lb/>
wie noch nie ein Mädchen geweſen iſt; denn ich habe<lb/>
Euch Beide lieb und kann es nicht auseinander löſen.<lb/>
Du, Marſchall, haſt mein halbes Herz verſchlungen; das<lb/>
iſt thöricht, aber es verführt mich; und Du, Kanzler,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[226/0236]
Nach aufgehobener Tafel wurde ein Spaziergang
durch den Garten gemacht, ſoweit die Wege in der frühen
Jahreszeit gangbar waren; denn wir befanden uns in
den erſten Monaten des Jahres 1813. Ich weiß nicht
wie es kam, daß wir uns mit dem Mädchen bald von den
übrigen Gäſten entfernten und ihr zu beiden Seiten gingen.
Wir fühlten uns jetzt ernſter und zugleich leidenſchaftlicher
geſtimmt, als früher, da wir uns der Tiefe unſerer
Neigung zu dem ſchönen Weſen deutlicher bewußt wurden;
nur die Ungewißheit der Zukunft und die vorausſichtliche
Dauer und Gefährlichkeit des bevorſtehenden oder vielmehr
ſchon begonnenen Krieges mochten verhüten, daß ſich die
zwiſchen uns Beiden bisanher waltende gleichmüthige
Freundſchaft trübte.
Hildeburg merkte wol an unſerem ſtillen Weſen und
an der Natur unſerer Athemzüge, was uns bewegte, und
ſie ſelbſt wurde fühlbar erregter. Als wir unverſehens
vor einem Pavillon anlangten, ſtieß ſie die Thüre auf,
ging hinein und öffnete die vom Winter her noch ver¬
ſchloſſenen Fenſterläden, indem ſie uns raſch mit einem
Blicke überflog. Wir folgten ihr in den kleinen Saal
und ſie wandte ſich uns zu.
„Ich bin in allem Ernſte in einer ſo traurigen Lage,
wie noch nie ein Mädchen geweſen iſt; denn ich habe
Euch Beide lieb und kann es nicht auseinander löſen.
Du, Marſchall, haſt mein halbes Herz verſchlungen; das
iſt thöricht, aber es verführt mich; und Du, Kanzler,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/236>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.