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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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es abzulehnen, aber Sie müssen doch vorher vernehmen,
wer ich bin und woher ich komme!"

"Morgen plaudern wir weiter, es eilt nicht!" rief er
mit eifriger Fürsorge und stand entschlossen auf, so ungern
er ihre Hand fahren ließ, als er bemerkte, daß sie ange¬
griffen, müde und hinwieder aufgeregt wurde.

Desto besser sah sie verhältnißmäßig am andern Tage
aus. Sie erhob sich von ihrem Sessel und ging ihm mit
kleinen Schritten entgegen, als er kam. Doch nöthigte
er sie sofort zum Sitzen.

"Ich habe sehr gut geschlafen die ganze Nacht," sagte
sie, "und zwar so merkwürdig, daß ich fast während des
Schlafes selbst die Wohlthat fühlte, wie wenn ich es
wüßte."

"Das ist recht!" sagte er mit dem Behagen eines
Gärtners, der ein verkümmertes Myrtenbäumchen sich
neuerdings erholen und im frischen Grün überall die
Blüthen erwachen sieht. Denn er gewahrte mit Ver¬
wunderung, welch' anmuthigen Ausdruckes dieses Gesicht
im Zustande der Zufriedenheit und Sorglosigkeit fähig
war. Er nahm einen kleinen Spiegel, der in der Nähe
stand, und hielt ihn der Frau vor mit den Worten:
"Schauen Sie einmal her!"

"Was ist's?" sagte sie leicht erschrocken, indem sie in
den Spiegel sah, aber nichts entdecken konnte.

"Ich meinte nur, wie schön Sie aussehen!"

es abzulehnen, aber Sie müſſen doch vorher vernehmen,
wer ich bin und woher ich komme!“

„Morgen plaudern wir weiter, es eilt nicht!“ rief er
mit eifriger Fürſorge und ſtand entſchloſſen auf, ſo ungern
er ihre Hand fahren ließ, als er bemerkte, daß ſie ange¬
griffen, müde und hinwieder aufgeregt wurde.

Deſto beſſer ſah ſie verhältnißmäßig am andern Tage
aus. Sie erhob ſich von ihrem Seſſel und ging ihm mit
kleinen Schritten entgegen, als er kam. Doch nöthigte
er ſie ſofort zum Sitzen.

„Ich habe ſehr gut geſchlafen die ganze Nacht,“ ſagte
ſie, „und zwar ſo merkwürdig, daß ich faſt während des
Schlafes ſelbſt die Wohlthat fühlte, wie wenn ich es
wüßte.“

„Das iſt recht!“ ſagte er mit dem Behagen eines
Gärtners, der ein verkümmertes Myrtenbäumchen ſich
neuerdings erholen und im friſchen Grün überall die
Blüthen erwachen ſieht. Denn er gewahrte mit Ver¬
wunderung, welch' anmuthigen Ausdruckes dieſes Geſicht
im Zuſtande der Zufriedenheit und Sorgloſigkeit fähig
war. Er nahm einen kleinen Spiegel, der in der Nähe
ſtand, und hielt ihn der Frau vor mit den Worten:
„Schauen Sie einmal her!“

„Was iſt's?“ ſagte ſie leicht erſchrocken, indem ſie in
den Spiegel ſah, aber nichts entdecken konnte.

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[191/0201] es abzulehnen, aber Sie müſſen doch vorher vernehmen, wer ich bin und woher ich komme!“ „Morgen plaudern wir weiter, es eilt nicht!“ rief er mit eifriger Fürſorge und ſtand entſchloſſen auf, ſo ungern er ihre Hand fahren ließ, als er bemerkte, daß ſie ange¬ griffen, müde und hinwieder aufgeregt wurde. Deſto beſſer ſah ſie verhältnißmäßig am andern Tage aus. Sie erhob ſich von ihrem Seſſel und ging ihm mit kleinen Schritten entgegen, als er kam. Doch nöthigte er ſie ſofort zum Sitzen. „Ich habe ſehr gut geſchlafen die ganze Nacht,“ ſagte ſie, „und zwar ſo merkwürdig, daß ich faſt während des Schlafes ſelbſt die Wohlthat fühlte, wie wenn ich es wüßte.“ „Das iſt recht!“ ſagte er mit dem Behagen eines Gärtners, der ein verkümmertes Myrtenbäumchen ſich neuerdings erholen und im friſchen Grün überall die Blüthen erwachen ſieht. Denn er gewahrte mit Ver¬ wunderung, welch' anmuthigen Ausdruckes dieſes Geſicht im Zuſtande der Zufriedenheit und Sorgloſigkeit fähig war. Er nahm einen kleinen Spiegel, der in der Nähe ſtand, und hielt ihn der Frau vor mit den Worten: „Schauen Sie einmal her!“ „Was iſt's?“ ſagte ſie leicht erſchrocken, indem ſie in den Spiegel ſah, aber nichts entdecken konnte. „Ich meinte nur, wie ſchön Sie ausſehen!“

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/201>, abgerufen am 22.11.2024.