Für den ersten Tag war Brandolf nun zu Ende, und so vergingen auch mehrere Wochen, ohne daß sich etwas ereignete, das ihm zum Einschreiten Ursache gegeben hätte. Er mußte sich also aufs Abwarten, Beobachten und Errathen des Geheimnisses beschränken; denn ein solches war offenbar vorhanden, obgleich die Frau hin¬ sichtlich ihrer Bösartigkeit verlästert wurde. Da fiel ihm nun zunächst auf, daß der Theil der Wohnung, wo sie haus'te, immer unzugänglich und verschlossen blieb; es war auch nichts weiter als eine Küche, ein einfenstriges schmales Zimmer und ein kleines Kämmerchen. Dort mußte sie Tag und Nacht mutterseelen allein verweilen, da außer einem Bäckerjungen man niemals einen Menschen zu ihr kommen hörte. Ein einziges Mal konnte Brandolf einen Blick in die Küche werfen, welche mit sauberem Geräthe ausgestattet schien; aber kein Zeichen bekundete, daß dort gefeuert und gekocht wurde. Nie hörte er einen Ton des Schmorens oder ein Prasseln des Holzes, oder ein Hacken von Fleisch und Gemüse, oder den Gesang von gebratenen Würsten, oder auch nur von armen Rittern, die in der heißen Butter lagen. Von was nährte sich denn die Frau? Hier begann dem neugierigen Mieths¬ mann ein Licht aufzugehen: Wahrscheinlich von gar nichts! Sie wird Hunger leiden -- was brauch' ich so lange nach der Quelle ihres Verdrusses zu forschen! Ein Stück Elend, eine arme Baronin, die allein in der Welt steht, wer weiß durch welches Schicksal!
Für den erſten Tag war Brandolf nun zu Ende, und ſo vergingen auch mehrere Wochen, ohne daß ſich etwas ereignete, das ihm zum Einſchreiten Urſache gegeben hätte. Er mußte ſich alſo aufs Abwarten, Beobachten und Errathen des Geheimniſſes beſchränken; denn ein ſolches war offenbar vorhanden, obgleich die Frau hin¬ ſichtlich ihrer Bösartigkeit verläſtert wurde. Da fiel ihm nun zunächſt auf, daß der Theil der Wohnung, wo ſie hauſ'te, immer unzugänglich und verſchloſſen blieb; es war auch nichts weiter als eine Küche, ein einfenſtriges ſchmales Zimmer und ein kleines Kämmerchen. Dort mußte ſie Tag und Nacht mutterſeelen allein verweilen, da außer einem Bäckerjungen man niemals einen Menſchen zu ihr kommen hörte. Ein einziges Mal konnte Brandolf einen Blick in die Küche werfen, welche mit ſauberem Geräthe ausgeſtattet ſchien; aber kein Zeichen bekundete, daß dort gefeuert und gekocht wurde. Nie hörte er einen Ton des Schmorens oder ein Praſſeln des Holzes, oder ein Hacken von Fleiſch und Gemüſe, oder den Geſang von gebratenen Würſten, oder auch nur von armen Rittern, die in der heißen Butter lagen. Von was nährte ſich denn die Frau? Hier begann dem neugierigen Mieths¬ mann ein Licht aufzugehen: Wahrſcheinlich von gar nichts! Sie wird Hunger leiden — was brauch' ich ſo lange nach der Quelle ihres Verdruſſes zu forſchen! Ein Stück Elend, eine arme Baronin, die allein in der Welt ſteht, wer weiß durch welches Schickſal!
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Für den erſten Tag war Brandolf nun zu Ende,
und ſo vergingen auch mehrere Wochen, ohne daß ſich
etwas ereignete, das ihm zum Einſchreiten Urſache gegeben
hätte. Er mußte ſich alſo aufs Abwarten, Beobachten
und Errathen des Geheimniſſes beſchränken; denn ein
ſolches war offenbar vorhanden, obgleich die Frau hin¬
ſichtlich ihrer Bösartigkeit verläſtert wurde. Da fiel ihm
nun zunächſt auf, daß der Theil der Wohnung, wo ſie
hauſ'te, immer unzugänglich und verſchloſſen blieb; es
war auch nichts weiter als eine Küche, ein einfenſtriges
ſchmales Zimmer und ein kleines Kämmerchen. Dort
mußte ſie Tag und Nacht mutterſeelen allein verweilen,
da außer einem Bäckerjungen man niemals einen Menſchen
zu ihr kommen hörte. Ein einziges Mal konnte Brandolf
einen Blick in die Küche werfen, welche mit ſauberem
Geräthe ausgeſtattet ſchien; aber kein Zeichen bekundete,
daß dort gefeuert und gekocht wurde. Nie hörte er einen
Ton des Schmorens oder ein Praſſeln des Holzes, oder
ein Hacken von Fleiſch und Gemüſe, oder den Geſang
von gebratenen Würſten, oder auch nur von armen Rittern,
die in der heißen Butter lagen. Von was nährte ſich
denn die Frau? Hier begann dem neugierigen Mieths¬
mann ein Licht aufzugehen: Wahrſcheinlich von gar nichts!
Sie wird Hunger leiden — was brauch' ich ſo lange nach
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eine arme Baronin, die allein in der Welt ſteht, wer
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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