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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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dringlich sei oder bis Nachmittag Zeit habe? fragte sie
nach einem minutenlangen Besinnen. Allerdings sei es
dringlich, meinte Brandolf, es müsse ein Knopf an den
Rock genäht werden, den er gerade heut tragen wolle.
Sie sah ihn halb an und war im Begriff, die Thüre
zuzuschlagen, drehte sich aber doch nochmals und fragte,
ob sie den Knopf nicht ansetzen könne? Ohne Zweifel,
wenn Sie wollten die Güte haben, sagte Brandolf, er
hängt noch an einem Faden; allein das darf ich Ihnen
nicht zumuthen!

Aber eine halbe Stunde weit zu laufen? erwiderte sie
und ging ein kleines altes Nähkörbchen zu holen, in
welchem ein Nadelkissen und einige Knäulchen Zwirn
lagen. Brandolf brachte den Rock herbei, und die vornehme
Wirthin nähte mit spitzen Fingerchen den Knopf fest.
Da sie mit der Arbeit ein wenig in's hellere Licht stehen
mußte, sah Brandolf zum ersten Male etwas deutlicher
einen Theil ihres Gesichtes, ein rundlich feines Kinn,
einen kleinen aber streng geformten Mund, darüber eine
etwas spitze Nase; die tief auf die Arbeit gesenkten Augen
verloren sich schon im Schatten des Kopftuches. Was
aber sichtbar blieb, war von einer fast durchsichtigen
weißen Farbe und mahnte an einen Nonnenkopf in einem
altdeutschen Bilde, zu welchem eine etwas gesalzene und
zugleich kummergewohnte Frau als Vorbild diente.

Es blieb aber nicht viel Zeit zu dieser Wahrnehmung;
denn sie war im Umsehen fertig und wieder verschwunden.

dringlich ſei oder bis Nachmittag Zeit habe? fragte ſie
nach einem minutenlangen Beſinnen. Allerdings ſei es
dringlich, meinte Brandolf, es müſſe ein Knopf an den
Rock genäht werden, den er gerade heut tragen wolle.
Sie ſah ihn halb an und war im Begriff, die Thüre
zuzuſchlagen, drehte ſich aber doch nochmals und fragte,
ob ſie den Knopf nicht anſetzen könne? Ohne Zweifel,
wenn Sie wollten die Güte haben, ſagte Brandolf, er
hängt noch an einem Faden; allein das darf ich Ihnen
nicht zumuthen!

Aber eine halbe Stunde weit zu laufen? erwiderte ſie
und ging ein kleines altes Nähkörbchen zu holen, in
welchem ein Nadelkiſſen und einige Knäulchen Zwirn
lagen. Brandolf brachte den Rock herbei, und die vornehme
Wirthin nähte mit ſpitzen Fingerchen den Knopf feſt.
Da ſie mit der Arbeit ein wenig in's hellere Licht ſtehen
mußte, ſah Brandolf zum erſten Male etwas deutlicher
einen Theil ihres Geſichtes, ein rundlich feines Kinn,
einen kleinen aber ſtreng geformten Mund, darüber eine
etwas ſpitze Naſe; die tief auf die Arbeit geſenkten Augen
verloren ſich ſchon im Schatten des Kopftuches. Was
aber ſichtbar blieb, war von einer faſt durchſichtigen
weißen Farbe und mahnte an einen Nonnenkopf in einem
altdeutſchen Bilde, zu welchem eine etwas geſalzene und
zugleich kummergewohnte Frau als Vorbild diente.

Es blieb aber nicht viel Zeit zu dieſer Wahrnehmung;
denn ſie war im Umſehen fertig und wieder verſchwunden.

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[169/0179] dringlich ſei oder bis Nachmittag Zeit habe? fragte ſie nach einem minutenlangen Beſinnen. Allerdings ſei es dringlich, meinte Brandolf, es müſſe ein Knopf an den Rock genäht werden, den er gerade heut tragen wolle. Sie ſah ihn halb an und war im Begriff, die Thüre zuzuſchlagen, drehte ſich aber doch nochmals und fragte, ob ſie den Knopf nicht anſetzen könne? Ohne Zweifel, wenn Sie wollten die Güte haben, ſagte Brandolf, er hängt noch an einem Faden; allein das darf ich Ihnen nicht zumuthen! Aber eine halbe Stunde weit zu laufen? erwiderte ſie und ging ein kleines altes Nähkörbchen zu holen, in welchem ein Nadelkiſſen und einige Knäulchen Zwirn lagen. Brandolf brachte den Rock herbei, und die vornehme Wirthin nähte mit ſpitzen Fingerchen den Knopf feſt. Da ſie mit der Arbeit ein wenig in's hellere Licht ſtehen mußte, ſah Brandolf zum erſten Male etwas deutlicher einen Theil ihres Geſichtes, ein rundlich feines Kinn, einen kleinen aber ſtreng geformten Mund, darüber eine etwas ſpitze Naſe; die tief auf die Arbeit geſenkten Augen verloren ſich ſchon im Schatten des Kopftuches. Was aber ſichtbar blieb, war von einer faſt durchſichtigen weißen Farbe und mahnte an einen Nonnenkopf in einem altdeutſchen Bilde, zu welchem eine etwas geſalzene und zugleich kummergewohnte Frau als Vorbild diente. Es blieb aber nicht viel Zeit zu dieſer Wahrnehmung; denn ſie war im Umſehen fertig und wieder verſchwunden.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/179>, abgerufen am 24.11.2024.