Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

tuches sehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers,
welches er für ein Dienstmädchen hielt. Grollend, ja böse
blickte sie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬
angenehm betroffen in die Wohnung seiner Freunde.
Dort untersuchte er den Absatz seines Stiefels und fand,
daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder
gestoßen war.

"Es ist doch ein Elend mit uns Menschen!" rief er
aus; "täglich sprechen wir von Liebe und Humanität und
täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen
irgend ein Mitgeschöpf! Zwar nicht mit Absicht; aber
muß ich mir nicht selbst gestehen: wenn eine Dame im
Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, so würde ich
sie sicherlich beachtet haben! Ehre dieser wehrbaren
scheuernden Person, die mir wenigstens ihren rächenden
Stachel in die Ferse gedrückt hat, und wohl mir, daß es
keine Achillesferse war!"

Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das ist
die Baronin! und der Hausvater sagte: "Lieber Brandolf!
diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenstand gänzlich
verfehlt! Die Dame auf der Treppe ist eine wahrhafte
Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu
hemmen, und aus Geiz, statt ihre Innenräume zu brauchen,
die gemeinsame Treppe mit Hammerschlag beschmutzt und
Messer blank fegt und dabei aus Adelstolz uns Bürger¬
liche weder grüßt noch auch nur ansieht!"

Verwundert über diese seltsame Aufklärung, ließ sich

tuches ſehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers,
welches er für ein Dienſtmädchen hielt. Grollend, ja böſe
blickte ſie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬
angenehm betroffen in die Wohnung ſeiner Freunde.
Dort unterſuchte er den Abſatz ſeines Stiefels und fand,
daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder
geſtoßen war.

„Es iſt doch ein Elend mit uns Menſchen!“ rief er
aus; „täglich ſprechen wir von Liebe und Humanität und
täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen
irgend ein Mitgeſchöpf! Zwar nicht mit Abſicht; aber
muß ich mir nicht ſelbſt geſtehen: wenn eine Dame im
Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, ſo würde ich
ſie ſicherlich beachtet haben! Ehre dieſer wehrbaren
ſcheuernden Perſon, die mir wenigſtens ihren rächenden
Stachel in die Ferſe gedrückt hat, und wohl mir, daß es
keine Achillesferſe war!“

Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das iſt
die Baronin! und der Hausvater ſagte: „Lieber Brandolf!
diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenſtand gänzlich
verfehlt! Die Dame auf der Treppe iſt eine wahrhafte
Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu
hemmen, und aus Geiz, ſtatt ihre Innenräume zu brauchen,
die gemeinſame Treppe mit Hammerſchlag beſchmutzt und
Meſſer blank fegt und dabei aus Adelſtolz uns Bürger¬
liche weder grüßt noch auch nur anſieht!“

Verwundert über dieſe ſeltſame Aufklärung, ließ ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0170" n="160"/>
tuches &#x017F;ehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers,<lb/>
welches er für ein Dien&#x017F;tmädchen hielt. Grollend, ja bö&#x017F;e<lb/>
blickte &#x017F;ie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬<lb/>
angenehm betroffen in die Wohnung &#x017F;einer Freunde.<lb/>
Dort unter&#x017F;uchte er den Ab&#x017F;atz &#x017F;eines Stiefels und fand,<lb/>
daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder<lb/>
ge&#x017F;toßen war.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es i&#x017F;t doch ein Elend mit uns Men&#x017F;chen!&#x201C; rief er<lb/>
aus; &#x201E;täglich &#x017F;prechen wir von Liebe und Humanität und<lb/>
täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen<lb/>
irgend ein Mitge&#x017F;chöpf! Zwar nicht mit Ab&#x017F;icht; aber<lb/>
muß ich mir nicht &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;tehen: wenn eine Dame im<lb/>
Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, &#x017F;o würde ich<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;icherlich beachtet haben! Ehre die&#x017F;er wehrbaren<lb/>
&#x017F;cheuernden Per&#x017F;on, die mir wenig&#x017F;tens ihren rächenden<lb/>
Stachel in die Fer&#x017F;e gedrückt hat, und wohl mir, daß es<lb/>
keine Achillesfer&#x017F;e war!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das i&#x017F;t<lb/>
die Baronin! und der Hausvater &#x017F;agte: &#x201E;Lieber Brandolf!<lb/>
diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegen&#x017F;tand gänzlich<lb/>
verfehlt! Die Dame auf der Treppe i&#x017F;t eine wahrhafte<lb/>
Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu<lb/>
hemmen, und aus Geiz, &#x017F;tatt ihre Innenräume zu brauchen,<lb/>
die gemein&#x017F;ame Treppe mit Hammer&#x017F;chlag be&#x017F;chmutzt und<lb/>
Me&#x017F;&#x017F;er blank fegt und dabei aus Adel&#x017F;tolz uns Bürger¬<lb/>
liche weder grüßt noch auch nur an&#x017F;ieht!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Verwundert über die&#x017F;e &#x017F;elt&#x017F;ame Aufklärung, ließ &#x017F;ich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[160/0170] tuches ſehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers, welches er für ein Dienſtmädchen hielt. Grollend, ja böſe blickte ſie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬ angenehm betroffen in die Wohnung ſeiner Freunde. Dort unterſuchte er den Abſatz ſeines Stiefels und fand, daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder geſtoßen war. „Es iſt doch ein Elend mit uns Menſchen!“ rief er aus; „täglich ſprechen wir von Liebe und Humanität und täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen irgend ein Mitgeſchöpf! Zwar nicht mit Abſicht; aber muß ich mir nicht ſelbſt geſtehen: wenn eine Dame im Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, ſo würde ich ſie ſicherlich beachtet haben! Ehre dieſer wehrbaren ſcheuernden Perſon, die mir wenigſtens ihren rächenden Stachel in die Ferſe gedrückt hat, und wohl mir, daß es keine Achillesferſe war!“ Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das iſt die Baronin! und der Hausvater ſagte: „Lieber Brandolf! diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenſtand gänzlich verfehlt! Die Dame auf der Treppe iſt eine wahrhafte Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu hemmen, und aus Geiz, ſtatt ihre Innenräume zu brauchen, die gemeinſame Treppe mit Hammerſchlag beſchmutzt und Meſſer blank fegt und dabei aus Adelſtolz uns Bürger¬ liche weder grüßt noch auch nur anſieht!“ Verwundert über dieſe ſeltſame Aufklärung, ließ ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/170
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/170>, abgerufen am 24.11.2024.