tuches sehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers, welches er für ein Dienstmädchen hielt. Grollend, ja böse blickte sie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬ angenehm betroffen in die Wohnung seiner Freunde. Dort untersuchte er den Absatz seines Stiefels und fand, daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder gestoßen war.
"Es ist doch ein Elend mit uns Menschen!" rief er aus; "täglich sprechen wir von Liebe und Humanität und täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen irgend ein Mitgeschöpf! Zwar nicht mit Absicht; aber muß ich mir nicht selbst gestehen: wenn eine Dame im Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, so würde ich sie sicherlich beachtet haben! Ehre dieser wehrbaren scheuernden Person, die mir wenigstens ihren rächenden Stachel in die Ferse gedrückt hat, und wohl mir, daß es keine Achillesferse war!"
Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das ist die Baronin! und der Hausvater sagte: "Lieber Brandolf! diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenstand gänzlich verfehlt! Die Dame auf der Treppe ist eine wahrhafte Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu hemmen, und aus Geiz, statt ihre Innenräume zu brauchen, die gemeinsame Treppe mit Hammerschlag beschmutzt und Messer blank fegt und dabei aus Adelstolz uns Bürger¬ liche weder grüßt noch auch nur ansieht!"
Verwundert über diese seltsame Aufklärung, ließ sich
tuches ſehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers, welches er für ein Dienſtmädchen hielt. Grollend, ja böſe blickte ſie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬ angenehm betroffen in die Wohnung ſeiner Freunde. Dort unterſuchte er den Abſatz ſeines Stiefels und fand, daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder geſtoßen war.
„Es iſt doch ein Elend mit uns Menſchen!“ rief er aus; „täglich ſprechen wir von Liebe und Humanität und täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen irgend ein Mitgeſchöpf! Zwar nicht mit Abſicht; aber muß ich mir nicht ſelbſt geſtehen: wenn eine Dame im Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, ſo würde ich ſie ſicherlich beachtet haben! Ehre dieſer wehrbaren ſcheuernden Perſon, die mir wenigſtens ihren rächenden Stachel in die Ferſe gedrückt hat, und wohl mir, daß es keine Achillesferſe war!“
Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das iſt die Baronin! und der Hausvater ſagte: „Lieber Brandolf! diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenſtand gänzlich verfehlt! Die Dame auf der Treppe iſt eine wahrhafte Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu hemmen, und aus Geiz, ſtatt ihre Innenräume zu brauchen, die gemeinſame Treppe mit Hammerſchlag beſchmutzt und Meſſer blank fegt und dabei aus Adelſtolz uns Bürger¬ liche weder grüßt noch auch nur anſieht!“
Verwundert über dieſe ſeltſame Aufklärung, ließ ſich
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tuches ſehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers,
welches er für ein Dienſtmädchen hielt. Grollend, ja böſe
blickte ſie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat un¬
angenehm betroffen in die Wohnung ſeiner Freunde.
Dort unterſuchte er den Abſatz ſeines Stiefels und fand,
daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder
geſtoßen war.
„Es iſt doch ein Elend mit uns Menſchen!“ rief er
aus; „täglich ſprechen wir von Liebe und Humanität und
täglich beleidigen wir auf Wegen, Stegen und Treppen
irgend ein Mitgeſchöpf! Zwar nicht mit Abſicht; aber
muß ich mir nicht ſelbſt geſtehen: wenn eine Dame im
Atlaskleide auf den Stufen gelegen hätte, ſo würde ich
ſie ſicherlich beachtet haben! Ehre dieſer wehrbaren
ſcheuernden Perſon, die mir wenigſtens ihren rächenden
Stachel in die Ferſe gedrückt hat, und wohl mir, daß es
keine Achillesferſe war!“
Er erzählte den kleinen Vorgang. Alle riefen: das iſt
die Baronin! und der Hausvater ſagte: „Lieber Brandolf!
diesmal hat Ihre humane Düftelei den Gegenſtand gänzlich
verfehlt! Die Dame auf der Treppe iſt eine wahrhafte
Baronin, die aus reiner Bosheit, um den Verkehr zu
hemmen, und aus Geiz, ſtatt ihre Innenräume zu brauchen,
die gemeinſame Treppe mit Hammerſchlag beſchmutzt und
Meſſer blank fegt und dabei aus Adelſtolz uns Bürger¬
liche weder grüßt noch auch nur anſieht!“
Verwundert über dieſe ſeltſame Aufklärung, ließ ſich
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/170>, abgerufen am 24.11.2024.
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