Er war zwar bald und fest eingeschlafen; doch der neue Inhalt, die Schatzvermehrung seiner Gedanken weckte ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Wesen außer ihm wäre, das freundlich seine Schulter berührte. Er mußte sich lange besinnen, wo er sei, und erst als er das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen Fensters aufmerksam betrachtete, kam er seinen gestrigen Erlebnissen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬ lich angenehm zu Muthe, und indem er in diesem Gefühle so hindämmerte, entschlief er wieder und erwachte erst, als das schöne Landgebiet, in das er hinausschaute, schon im vollen Sonnenscheine lag und der Fluß weithin schimmerte. In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar dieser Musikanten flatterte und saß an den Marmorschalen des Brunnens, in dessen Nähe ein Tisch zum Frühstücke gedeckt war.
"Lux, mein Licht! wo bleibst Du?" hörte er eine alte, obwol noch kräftige Stimme rufen und sah darauf den
Neuntes Capitel. Die arme Baronin.
Er war zwar bald und feſt eingeſchlafen; doch der neue Inhalt, die Schatzvermehrung ſeiner Gedanken weckte ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Weſen außer ihm wäre, das freundlich ſeine Schulter berührte. Er mußte ſich lange beſinnen, wo er ſei, und erſt als er das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen Fenſters aufmerkſam betrachtete, kam er ſeinen geſtrigen Erlebniſſen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬ lich angenehm zu Muthe, und indem er in dieſem Gefühle ſo hindämmerte, entſchlief er wieder und erwachte erſt, als das ſchöne Landgebiet, in das er hinausſchaute, ſchon im vollen Sonnenſcheine lag und der Fluß weithin ſchimmerte. In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar dieſer Muſikanten flatterte und ſaß an den Marmorſchalen des Brunnens, in deſſen Nähe ein Tiſch zum Frühſtücke gedeckt war.
„Lux, mein Licht! wo bleibſt Du?“ hörte er eine alte, obwol noch kräftige Stimme rufen und ſah darauf den
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0165"n="[155]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Neuntes Capitel.</hi><lb/><hirendition="#b #g">Die arme Baronin.</hi><lb/></head><p><hirendition="#in">E</hi>r war zwar bald und feſt eingeſchlafen; doch der<lb/>
neue Inhalt, die Schatzvermehrung ſeiner Gedanken weckte<lb/>
ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Weſen<lb/>
außer ihm wäre, das freundlich ſeine Schulter berührte.<lb/>
Er mußte ſich lange beſinnen, wo er ſei, und erſt als er<lb/>
das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen<lb/>
Fenſters aufmerkſam betrachtete, kam er ſeinen geſtrigen<lb/>
Erlebniſſen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬<lb/>
lich angenehm zu Muthe, und indem er in dieſem Gefühle<lb/>ſo hindämmerte, entſchlief er wieder und erwachte erſt, als<lb/>
das ſchöne Landgebiet, in das er hinausſchaute, ſchon im<lb/>
vollen Sonnenſcheine lag und der Fluß weithin ſchimmerte.<lb/>
In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar<lb/>
dieſer Muſikanten flatterte und ſaß an den Marmorſchalen<lb/>
des Brunnens, in deſſen Nähe ein Tiſch zum Frühſtücke<lb/>
gedeckt war.</p><lb/><p>„Lux, mein Licht! wo bleibſt Du?“ hörte er eine alte,<lb/>
obwol noch kräftige Stimme rufen und ſah darauf den<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[155]/0165]
Neuntes Capitel.
Die arme Baronin.
Er war zwar bald und feſt eingeſchlafen; doch der
neue Inhalt, die Schatzvermehrung ſeiner Gedanken weckte
ihn vor Tagesanbruch, wie wenn es ein lebendiges Weſen
außer ihm wäre, das freundlich ſeine Schulter berührte.
Er mußte ſich lange beſinnen, wo er ſei, und erſt als er
das von der Morgendämmerung erhellte Viereck des großen
Fenſters aufmerkſam betrachtete, kam er ſeinen geſtrigen
Erlebniſſen auf die Spur. Es wurde ihm beinahe feier¬
lich angenehm zu Muthe, und indem er in dieſem Gefühle
ſo hindämmerte, entſchlief er wieder und erwachte erſt, als
das ſchöne Landgebiet, in das er hinausſchaute, ſchon im
vollen Sonnenſcheine lag und der Fluß weithin ſchimmerte.
In den Platanen war großes Vogelconcert, eine Schar
dieſer Muſikanten flatterte und ſaß an den Marmorſchalen
des Brunnens, in deſſen Nähe ein Tiſch zum Frühſtücke
gedeckt war.
„Lux, mein Licht! wo bleibſt Du?“ hörte er eine alte,
obwol noch kräftige Stimme rufen und ſah darauf den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [155]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/165>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.