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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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zu verheimlichen suchte und ihr Zimmer stets ebenso
reinlich geordnet als unverschlossen und für Jedermann
zugänglich hielt, hatte die Mutter überhaupt schon wahr¬
genommen.

Erwin fuhr in peinlicher Ungeduld wieder mit einem
sausenden Nachtzuge und betrat Morgens um sechs Uhr
sein Haus. Schnell eilte er nach seinem eigenen Schlaf¬
zimmer, um sich zu reinigen und die Kleider zu wechseln.
Kaum hörte jedoch die Mutter von seiner Ankunft, so
suchte sie ihn auf und erzählte ihm von Reginen, Nach¬
dem sie, theilte sie ihm in sichtbarer Ergriffenheit mit,
die Zeit her von ihrem ganzen Benehmen einen solchen
Eindruck erhalten, daß jene eine entsetzliche Heuchlerin und
Schauspielerin sein müßte, wenn es erlogen wäre, habe
sie in der vergangenen Nacht oder vielmehr kurz vor
Anbruch des Tages eine seltsam rührende Entdeckung
gemacht. Von Schlaflosigkeit geplagt sei sie aufgestanden
und habe sich in der Finsterniß nach dem kleinen Saale
hin getappt, welcher dem von Reginen bewohnten Seiten¬
flügel gegenüber liege. Dort sei auf einem Tischchen ein
kleines Fläschchen mit erfrischender Essenz unter Nippsachen
stehen geblieben, das sie seit lange nicht mehr gebraucht.
Wie sie dasselbe nun gesucht, habe sie über den Hof weg
einen schwachen Lichtschimmer bemerkt, während sonst noch
Alles in der nächtlichen Ruhe gelegen. Als sie genauer
hingeschaut, habe sie gleich erkannt, daß der Schimmer
aus Reginen's Fenster komme, und sodann habe sie diese

zu verheimlichen ſuchte und ihr Zimmer ſtets ebenſo
reinlich geordnet als unverſchloſſen und für Jedermann
zugänglich hielt, hatte die Mutter überhaupt ſchon wahr¬
genommen.

Erwin fuhr in peinlicher Ungeduld wieder mit einem
ſauſenden Nachtzuge und betrat Morgens um ſechs Uhr
ſein Haus. Schnell eilte er nach ſeinem eigenen Schlaf¬
zimmer, um ſich zu reinigen und die Kleider zu wechſeln.
Kaum hörte jedoch die Mutter von ſeiner Ankunft, ſo
ſuchte ſie ihn auf und erzählte ihm von Reginen, Nach¬
dem ſie, theilte ſie ihm in ſichtbarer Ergriffenheit mit,
die Zeit her von ihrem ganzen Benehmen einen ſolchen
Eindruck erhalten, daß jene eine entſetzliche Heuchlerin und
Schauſpielerin ſein müßte, wenn es erlogen wäre, habe
ſie in der vergangenen Nacht oder vielmehr kurz vor
Anbruch des Tages eine ſeltſam rührende Entdeckung
gemacht. Von Schlafloſigkeit geplagt ſei ſie aufgeſtanden
und habe ſich in der Finſterniß nach dem kleinen Saale
hin getappt, welcher dem von Reginen bewohnten Seiten¬
flügel gegenüber liege. Dort ſei auf einem Tiſchchen ein
kleines Fläſchchen mit erfriſchender Eſſenz unter Nippſachen
ſtehen geblieben, das ſie ſeit lange nicht mehr gebraucht.
Wie ſie daſſelbe nun geſucht, habe ſie über den Hof weg
einen ſchwachen Lichtſchimmer bemerkt, während ſonſt noch
Alles in der nächtlichen Ruhe gelegen. Als ſie genauer
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aus Reginen's Fenſter komme, und ſodann habe ſie dieſe

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[144/0154] zu verheimlichen ſuchte und ihr Zimmer ſtets ebenſo reinlich geordnet als unverſchloſſen und für Jedermann zugänglich hielt, hatte die Mutter überhaupt ſchon wahr¬ genommen. Erwin fuhr in peinlicher Ungeduld wieder mit einem ſauſenden Nachtzuge und betrat Morgens um ſechs Uhr ſein Haus. Schnell eilte er nach ſeinem eigenen Schlaf¬ zimmer, um ſich zu reinigen und die Kleider zu wechſeln. Kaum hörte jedoch die Mutter von ſeiner Ankunft, ſo ſuchte ſie ihn auf und erzählte ihm von Reginen, Nach¬ dem ſie, theilte ſie ihm in ſichtbarer Ergriffenheit mit, die Zeit her von ihrem ganzen Benehmen einen ſolchen Eindruck erhalten, daß jene eine entſetzliche Heuchlerin und Schauſpielerin ſein müßte, wenn es erlogen wäre, habe ſie in der vergangenen Nacht oder vielmehr kurz vor Anbruch des Tages eine ſeltſam rührende Entdeckung gemacht. Von Schlafloſigkeit geplagt ſei ſie aufgeſtanden und habe ſich in der Finſterniß nach dem kleinen Saale hin getappt, welcher dem von Reginen bewohnten Seiten¬ flügel gegenüber liege. Dort ſei auf einem Tiſchchen ein kleines Fläſchchen mit erfriſchender Eſſenz unter Nippſachen ſtehen geblieben, das ſie ſeit lange nicht mehr gebraucht. Wie ſie daſſelbe nun geſucht, habe ſie über den Hof weg einen ſchwachen Lichtſchimmer bemerkt, während ſonſt noch Alles in der nächtlichen Ruhe gelegen. Als ſie genauer hingeſchaut, habe ſie gleich erkannt, daß der Schimmer aus Reginen's Fenſter komme, und ſodann habe ſie dieſe

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/154>, abgerufen am 24.11.2024.