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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Reginen gerathen, die Sehnsucht nach ihrer Gegenwart
und nach den vergangenen Tagen und zugleich den Abscheu
vor dem Abgrunde, den er mehr als nur ahnen und
fürchten mußte. Und je unvermeidlicher ihm der Verlust
erschien, um so unersetzlicher und einziger dünkte ihm die
Unselige, an welche er alle die Liebe und Sorge gewendet
hatte. Zuletzt überwog das Verlangen nach ihrem Anblicke
so stark, daß er am achtzehnten Tage seiner Reise um¬
kehrte, in der Absicht, die Entscheidung herbeizuführen
und die Frau auf die Gefahr hin, sie sofort auf immer
zu verlieren, wenigstens dies eine Mal noch zu sehen.

Während der Zeit hatte seine Mutter die einsame
Regina jeden Tag besucht und ein Stündchen mit einer
Arbeit bei ihr gesessen, ihr auch etwas zu thun mitgebracht
und ein ruhiges Gespräch in Güte mit ihr unterhalten,
wobei sie freilich das Meiste thun mußte. Jedoch vermied
sie es gewissenhaft, mit Fragen und Verhören in die
junge Frau zu dringen, die in aller einsilbigen Trauer
Zeichen demüthiger Dankbarkeit erkennen ließ, wie eine
edle Natur auch in zeitweiliger Geistesabwesenheit die
Spuren des Guten zeigt. An dem Tage, an welchem
Erwin bereits auf dem Heimwege begriffen war, fand
seine Mutter die Regina in eifrigem Schreiben begriffen.
Dies erregte ihre Aufmerksamkeit und wollte ihr gar
wohl gefallen; es lagen schon mehrere beschriebene Blätter
da, welche Regina ruhig zusammenschob, ohne sie ängstlich
zu verbergen. Den Umstand, daß sie überhaupt nie etwas

Reginen gerathen, die Sehnſucht nach ihrer Gegenwart
und nach den vergangenen Tagen und zugleich den Abſcheu
vor dem Abgrunde, den er mehr als nur ahnen und
fürchten mußte. Und je unvermeidlicher ihm der Verluſt
erſchien, um ſo unerſetzlicher und einziger dünkte ihm die
Unſelige, an welche er alle die Liebe und Sorge gewendet
hatte. Zuletzt überwog das Verlangen nach ihrem Anblicke
ſo ſtark, daß er am achtzehnten Tage ſeiner Reiſe um¬
kehrte, in der Abſicht, die Entſcheidung herbeizuführen
und die Frau auf die Gefahr hin, ſie ſofort auf immer
zu verlieren, wenigſtens dies eine Mal noch zu ſehen.

Während der Zeit hatte ſeine Mutter die einſame
Regina jeden Tag beſucht und ein Stündchen mit einer
Arbeit bei ihr geſeſſen, ihr auch etwas zu thun mitgebracht
und ein ruhiges Geſpräch in Güte mit ihr unterhalten,
wobei ſie freilich das Meiſte thun mußte. Jedoch vermied
ſie es gewiſſenhaft, mit Fragen und Verhören in die
junge Frau zu dringen, die in aller einſilbigen Trauer
Zeichen demüthiger Dankbarkeit erkennen ließ, wie eine
edle Natur auch in zeitweiliger Geiſtesabweſenheit die
Spuren des Guten zeigt. An dem Tage, an welchem
Erwin bereits auf dem Heimwege begriffen war, fand
ſeine Mutter die Regina in eifrigem Schreiben begriffen.
Dies erregte ihre Aufmerkſamkeit und wollte ihr gar
wohl gefallen; es lagen ſchon mehrere beſchriebene Blätter
da, welche Regina ruhig zuſammenſchob, ohne ſie ängſtlich
zu verbergen. Den Umſtand, daß ſie überhaupt nie etwas

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[143/0153] Reginen gerathen, die Sehnſucht nach ihrer Gegenwart und nach den vergangenen Tagen und zugleich den Abſcheu vor dem Abgrunde, den er mehr als nur ahnen und fürchten mußte. Und je unvermeidlicher ihm der Verluſt erſchien, um ſo unerſetzlicher und einziger dünkte ihm die Unſelige, an welche er alle die Liebe und Sorge gewendet hatte. Zuletzt überwog das Verlangen nach ihrem Anblicke ſo ſtark, daß er am achtzehnten Tage ſeiner Reiſe um¬ kehrte, in der Abſicht, die Entſcheidung herbeizuführen und die Frau auf die Gefahr hin, ſie ſofort auf immer zu verlieren, wenigſtens dies eine Mal noch zu ſehen. Während der Zeit hatte ſeine Mutter die einſame Regina jeden Tag beſucht und ein Stündchen mit einer Arbeit bei ihr geſeſſen, ihr auch etwas zu thun mitgebracht und ein ruhiges Geſpräch in Güte mit ihr unterhalten, wobei ſie freilich das Meiſte thun mußte. Jedoch vermied ſie es gewiſſenhaft, mit Fragen und Verhören in die junge Frau zu dringen, die in aller einſilbigen Trauer Zeichen demüthiger Dankbarkeit erkennen ließ, wie eine edle Natur auch in zeitweiliger Geiſtesabweſenheit die Spuren des Guten zeigt. An dem Tage, an welchem Erwin bereits auf dem Heimwege begriffen war, fand ſeine Mutter die Regina in eifrigem Schreiben begriffen. Dies erregte ihre Aufmerkſamkeit und wollte ihr gar wohl gefallen; es lagen ſchon mehrere beſchriebene Blätter da, welche Regina ruhig zuſammenſchob, ohne ſie ängſtlich zu verbergen. Den Umſtand, daß ſie überhaupt nie etwas

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/153>, abgerufen am 24.11.2024.