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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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selbst gesehen vor einem Stuhle knieen, mit gefalteten
Händen. Auf dem Stuhle habe ein kleines Buch gelegen,
offenbar ein Gebetbuch, beleuchtet von dem daneben
stehenden Nachtlämpchen. Das Gesicht der Frau habe sie
nicht sehen können, sie habe es tief vorn über gebeugt,
und so sei sie unbeweglich verharrt, eine Viertelstunde,
die zweite und vielleicht auch die dritte. Lange habe die
Mutter der Erscheinung zugeschaut; ein paar Mal habe
Regina das Blatt umgewendet und es dann wieder rück¬
wärts umgeschlagen, auch das Umwenden etwa vergessen
und längere Zeit in's Leere hinaus gebetet oder sonst
Schweres gedacht; immerhin scheine sie nur ein und
dasselbe Gebet oder was es sein möge, gelesen zu haben.
Jedes Mal, wenn sie sich ein wenig bewegt habe, sei das
schauerlich rührend anzusehen gewesen in der nächtlichen
Stille und bei der Verlassenheit der armen Person.
Endlich, da die Mutter im leichten Nachtkleide gefröstelt,
habe sie sich nicht getraut, länger zu stehen, und gedacht,
Jene sei ja wohl aufgehoben bei ihrem Gebetbuche, und
sei wieder zu Bett gegangen, allerdings ohne den Schlaf
noch zu finden. "O mein Sohn", rief die Mutter mit
überquellenden Augen, "es wäre doch ein großes Glück,
wenn dieses Geschöpf gerettet werden könnte! Ich habe
noch nichts Schöneres gesehen auf dieser Welt! Wozu
sind wir denn Christen, wenn wir das Wort des Herrn
das erste Mal verachten wollen, wo es sich gegen uns
selbst wendet?"

Keller, Sinngedicht. 10

ſelbſt geſehen vor einem Stuhle knieen, mit gefalteten
Händen. Auf dem Stuhle habe ein kleines Buch gelegen,
offenbar ein Gebetbuch, beleuchtet von dem daneben
ſtehenden Nachtlämpchen. Das Geſicht der Frau habe ſie
nicht ſehen können, ſie habe es tief vorn über gebeugt,
und ſo ſei ſie unbeweglich verharrt, eine Viertelſtunde,
die zweite und vielleicht auch die dritte. Lange habe die
Mutter der Erſcheinung zugeſchaut; ein paar Mal habe
Regina das Blatt umgewendet und es dann wieder rück¬
wärts umgeſchlagen, auch das Umwenden etwa vergeſſen
und längere Zeit in's Leere hinaus gebetet oder ſonſt
Schweres gedacht; immerhin ſcheine ſie nur ein und
daſſelbe Gebet oder was es ſein möge, geleſen zu haben.
Jedes Mal, wenn ſie ſich ein wenig bewegt habe, ſei das
ſchauerlich rührend anzuſehen geweſen in der nächtlichen
Stille und bei der Verlaſſenheit der armen Perſon.
Endlich, da die Mutter im leichten Nachtkleide gefröſtelt,
habe ſie ſich nicht getraut, länger zu ſtehen, und gedacht,
Jene ſei ja wohl aufgehoben bei ihrem Gebetbuche, und
ſei wieder zu Bett gegangen, allerdings ohne den Schlaf
noch zu finden. „O mein Sohn“, rief die Mutter mit
überquellenden Augen, „es wäre doch ein großes Glück,
wenn dieſes Geſchöpf gerettet werden könnte! Ich habe
noch nichts Schöneres geſehen auf dieſer Welt! Wozu
ſind wir denn Chriſten, wenn wir das Wort des Herrn
das erſte Mal verachten wollen, wo es ſich gegen uns
ſelbſt wendet?“

Keller, Sinngedicht. 10
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[145/0155] ſelbſt geſehen vor einem Stuhle knieen, mit gefalteten Händen. Auf dem Stuhle habe ein kleines Buch gelegen, offenbar ein Gebetbuch, beleuchtet von dem daneben ſtehenden Nachtlämpchen. Das Geſicht der Frau habe ſie nicht ſehen können, ſie habe es tief vorn über gebeugt, und ſo ſei ſie unbeweglich verharrt, eine Viertelſtunde, die zweite und vielleicht auch die dritte. Lange habe die Mutter der Erſcheinung zugeſchaut; ein paar Mal habe Regina das Blatt umgewendet und es dann wieder rück¬ wärts umgeſchlagen, auch das Umwenden etwa vergeſſen und längere Zeit in's Leere hinaus gebetet oder ſonſt Schweres gedacht; immerhin ſcheine ſie nur ein und daſſelbe Gebet oder was es ſein möge, geleſen zu haben. Jedes Mal, wenn ſie ſich ein wenig bewegt habe, ſei das ſchauerlich rührend anzuſehen geweſen in der nächtlichen Stille und bei der Verlaſſenheit der armen Perſon. Endlich, da die Mutter im leichten Nachtkleide gefröſtelt, habe ſie ſich nicht getraut, länger zu ſtehen, und gedacht, Jene ſei ja wohl aufgehoben bei ihrem Gebetbuche, und ſei wieder zu Bett gegangen, allerdings ohne den Schlaf noch zu finden. „O mein Sohn“, rief die Mutter mit überquellenden Augen, „es wäre doch ein großes Glück, wenn dieſes Geſchöpf gerettet werden könnte! Ich habe noch nichts Schöneres geſehen auf dieſer Welt! Wozu ſind wir denn Chriſten, wenn wir das Wort des Herrn das erſte Mal verachten wollen, wo es ſich gegen uns ſelbſt wendet?“ Keller, Sinngedicht. 10

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/155>, abgerufen am 24.11.2024.