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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Und nun erst der Einzug in das Vaterhaus zu
Boston! Statt der siegreichen Freude der Anerkennung,
des Beifalls, ein geheimnißvolles, gedrücktes Ansichhalten,
ein schweigsames, vorsichtiges Wesen und zuletzt eine
allgemeine Stille im Hause als Folge des halbwahren
Vorgebens von einem plötzlichen Zerwürfnisse, einer
krankhaften Laune der jungen Frau. Nur der Mutter
anvertraute Erwin einen Theil der Wahrheit, so weit
diese nicht zu grausam, zu hart für Reginen und ganz
unerträglich auch für die Mutter gewesen wäre. In¬
dem ihr der erste Anblick Reginen's ein hohes Wohlgefallen
und ihre ganze Haltung eine schmerzliche Theilnahme, aber
freilich auch die tiefste Sorge verursacht hatten, war sie mit
einem behutsam schonenden Vorgehen einverstanden, und
sie suchte das Beispiel zu geben, die halb Geächtete mit
einer gewissen ernsten Sanftmuth zu behandeln, wie es
etwa verwirrten kranken Personen gegenüber geschieht.
Alle Familienglieder, Angestellten und Dienstboten des
Hauses hielten den gleichen Ton inne, ohne sichtbare
Verständigung; Regina hingegen sah sich mitten in
der Schar der neuen Verwandten und Hausgenossen
vereinsamt, ohne zu fragen oder zu klagen. In der ent¬
legenen Wohnung eines Seitenflügels lebte sie bald
wie eine freiwillige Gefangene, während Erwin gleich
Anfangs auf einige Wochen verreist war, um das getrennte
Leben weniger auffällig zu machen. Allein wo er ging
und stand, fühlte er die Last des Elendes, in das er mit

Und nun erſt der Einzug in das Vaterhaus zu
Boſton! Statt der ſiegreichen Freude der Anerkennung,
des Beifalls, ein geheimnißvolles, gedrücktes Anſichhalten,
ein ſchweigſames, vorſichtiges Weſen und zuletzt eine
allgemeine Stille im Hauſe als Folge des halbwahren
Vorgebens von einem plötzlichen Zerwürfniſſe, einer
krankhaften Laune der jungen Frau. Nur der Mutter
anvertraute Erwin einen Theil der Wahrheit, ſo weit
dieſe nicht zu grauſam, zu hart für Reginen und ganz
unerträglich auch für die Mutter geweſen wäre. In¬
dem ihr der erſte Anblick Reginen's ein hohes Wohlgefallen
und ihre ganze Haltung eine ſchmerzliche Theilnahme, aber
freilich auch die tiefſte Sorge verurſacht hatten, war ſie mit
einem behutſam ſchonenden Vorgehen einverſtanden, und
ſie ſuchte das Beiſpiel zu geben, die halb Geächtete mit
einer gewiſſen ernſten Sanftmuth zu behandeln, wie es
etwa verwirrten kranken Perſonen gegenüber geſchieht.
Alle Familienglieder, Angeſtellten und Dienſtboten des
Hauſes hielten den gleichen Ton inne, ohne ſichtbare
Verſtändigung; Regina hingegen ſah ſich mitten in
der Schar der neuen Verwandten und Hausgenoſſen
vereinſamt, ohne zu fragen oder zu klagen. In der ent¬
legenen Wohnung eines Seitenflügels lebte ſie bald
wie eine freiwillige Gefangene, während Erwin gleich
Anfangs auf einige Wochen verreiſt war, um das getrennte
Leben weniger auffällig zu machen. Allein wo er ging
und ſtand, fühlte er die Laſt des Elendes, in das er mit

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[142/0152] Und nun erſt der Einzug in das Vaterhaus zu Boſton! Statt der ſiegreichen Freude der Anerkennung, des Beifalls, ein geheimnißvolles, gedrücktes Anſichhalten, ein ſchweigſames, vorſichtiges Weſen und zuletzt eine allgemeine Stille im Hauſe als Folge des halbwahren Vorgebens von einem plötzlichen Zerwürfniſſe, einer krankhaften Laune der jungen Frau. Nur der Mutter anvertraute Erwin einen Theil der Wahrheit, ſo weit dieſe nicht zu grauſam, zu hart für Reginen und ganz unerträglich auch für die Mutter geweſen wäre. In¬ dem ihr der erſte Anblick Reginen's ein hohes Wohlgefallen und ihre ganze Haltung eine ſchmerzliche Theilnahme, aber freilich auch die tiefſte Sorge verurſacht hatten, war ſie mit einem behutſam ſchonenden Vorgehen einverſtanden, und ſie ſuchte das Beiſpiel zu geben, die halb Geächtete mit einer gewiſſen ernſten Sanftmuth zu behandeln, wie es etwa verwirrten kranken Perſonen gegenüber geſchieht. Alle Familienglieder, Angeſtellten und Dienſtboten des Hauſes hielten den gleichen Ton inne, ohne ſichtbare Verſtändigung; Regina hingegen ſah ſich mitten in der Schar der neuen Verwandten und Hausgenoſſen vereinſamt, ohne zu fragen oder zu klagen. In der ent¬ legenen Wohnung eines Seitenflügels lebte ſie bald wie eine freiwillige Gefangene, während Erwin gleich Anfangs auf einige Wochen verreiſt war, um das getrennte Leben weniger auffällig zu machen. Allein wo er ging und ſtand, fühlte er die Laſt des Elendes, in das er mit

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/152>, abgerufen am 24.11.2024.