herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen, was irgend wohl ansteht, und sie kannte sogar fast alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, so daß unwissende Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene schreckliche Ver¬ legenheit geriethen, weniger zu verstehen, als ein müssiges Ziergewächs von Jungfräulein. Überhaupt schien ein gesunder und wohldurchge¬ bildeter Sinn in ihr sich mehr dadurch zu zeigen, daß sie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge, Vorfälle oder Gegenstände durchaus zu¬ treffend beurtheilte und behandelte und dabei waren ihre Gedanken und Worte so einfach lieb¬ lich und bestimmt, wie der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles dies war sie, wie gesagt, so kindlich, so wenig durchtrieben, daß sie nicht im Stande war, eine überlegte Partie Schach spielen zu lernen und dennoch mit der fröhlichsten Geduld am Brette saß, um sich von ihrem Vater unaufhör¬ lich überrumpeln zu lassen. So ward es Einem sogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, diese wäre der wahre Jakob unter den Weibern und keine Bes¬
4*
herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen, was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬ legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein. Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬ bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen, daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬ treffend beurtheilte und behandelte und dabei waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬ lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres Körpers. Und über alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war, eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬ lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬
4*
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0063"n="51"/>
herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen,<lb/>
was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar<lb/>
faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch<lb/>
viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer<lb/>
ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬<lb/>
legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als<lb/>
ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein.<lb/>
Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬<lb/>
bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen,<lb/>
daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren<lb/>
Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬<lb/>
treffend beurtheilte und behandelte und dabei<lb/>
waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬<lb/>
lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme<lb/>
und die Bewegungen ihres Körpers. Und über<lb/>
alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo<lb/>
wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war,<lb/>
eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen<lb/>
und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am<lb/>
Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬<lb/>
lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem<lb/>ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer<lb/>
Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der<lb/>
wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig">4*<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[51/0063]
herige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen,
was irgend wohl anſteht, und ſie kannte ſogar
faſt alle neueren Sprachen, ohne daß man jedoch
viel davon bemerkte, ſo daß unwiſſende Männer
ihr gegenüber nicht leicht in jene ſchreckliche Ver¬
legenheit geriethen, weniger zu verſtehen, als
ein müſſiges Ziergewächs von Jungfräulein.
Überhaupt ſchien ein geſunder und wohldurchge¬
bildeter Sinn in ihr ſich mehr dadurch zu zeigen,
daß ſie die vorkommenden kleineren oder größeren
Dinge, Vorfälle oder Gegenſtände durchaus zu¬
treffend beurtheilte und behandelte und dabei
waren ihre Gedanken und Worte ſo einfach lieb¬
lich und beſtimmt, wie der Ton ihrer Stimme
und die Bewegungen ihres Körpers. Und über
alles dies war ſie, wie geſagt, ſo kindlich, ſo
wenig durchtrieben, daß ſie nicht im Stande war,
eine überlegte Partie Schach ſpielen zu lernen
und dennoch mit der fröhlichſten Geduld am
Brette ſaß, um ſich von ihrem Vater unaufhör¬
lich überrumpeln zu laſſen. So ward es Einem
ſogleich heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer
Nähe; man dachte unverweilt, dieſe wäre der
wahre Jakob unter den Weibern und keine Beſ¬
4*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/63>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.